Der Stand der Dinge

Interview mit einem nicht-leitenden Mitglied des Kommunalen Kinos Konstanz
von Felix Schaulust*

Vorwort

Der Text entstand Anfang der achtziger Jahre (nach dem Tod von R. W. Fassbinder, wie sich aus dem Text ergibt, s. u.) als ich noch in Konstanz studierte. Das Kommunale Kino wurde von einem kleinen Verein von cineastisch interessierten Menschen gemacht: klammheimliche Führungsfigur war Ivo, Dozent der Philosophie, der damals an seiner Habilitation über Karl Marx arbeitete.

Die Situation war dadurch geprägt, dass alle aus dem Ghetto der Uni raus wollten, denn um die Vorführungen des Kommunalen Kinos im Audimax zu besuchen, musste man abends nochmals an die Universität; und die Konstanzer Uni liegt fernab des Stadtzentrums und der Wohngebiete auf dem Gießberg.

Dann erhielten wir die Gelegenheit, unser Programm im Kino Roxy in der Innenstadt zu zeigen, waren aber nicht sehr zufrieden damit, so dass ständig davon geredet wurde, man bräuchte einen eigenen Saal. Als sich dann mein Studium dem Ende zuneigte und ich Zeit zu einer intensiven Suche hatte, fand ich tatsächlich einen Raum, und zwar das frühere Soldaten-Kino in der ehemaligen Cherisy-Kaserne. Die Franzosen waren nämlich abgezogen.

Nun musste das Team des Kommunalen Kinos zeigen, ob es tatsächlich ein eigenes Kino haben wollte. Aber plötzlich hatten fast alle irgendwelche Bedenken. Als ich mich sehr dafür engagierte, in der Cherisy-Kaserne ein eigenes Kino aufzubauen, wurde mir tatsächlich „managerhaftes“ Verhalten vorgeworfen. Das enttäuschte mich zutiefst. Letztendlich führte die weitere Entwicklung zu einer Trennung der Gruppe; ein Teil gründete das Zebra-Kino, das den Raum in der Cherisy-Kaserne als Kino nutzte. Ich war dann schon nicht mehr in Konstanz, sondern wegen des Beginns meines Referendariats nach Karlsruhe gezogen.

Wie so oft, schrieb ich mir den Stress und Ärger mit den wenig begeisterungsfähigen Mitgliedern des Kommunalen Kinos Konstanz in einem Text eines fiktiven Interviews von der Seele.

Da die vorhandene handschriftliche Fassung eher aus einzelnen Textfragmenten bestand, galt es, durch die Überarbeitung einen durchgehenden Text herzustellen. Einige Wiederholungen ließen sich nicht vermeiden. 

* Ursprünglich wurde ein anderes Pseudonym verwendet.

Josef Jünger, August 2022

 

Das Interview

Frage: Wie siehst Du die Zukunft des Kommunalen Kinos?

Antwort: Schwarz wie Bauer.**

Frage: Bisher kannten wir Dich als unerschütterlichen Optimisten, was hat diese Wandlung bewirkt?

Antwort:   …….ähhh

Frage: Stimmt es, dass es im Kommunalen Kino Mitglieder gibt, die Filme in Räumen und Orten zeigen wollen, die zur Filmvorführung möglichst ungeeignet sind?

Antwort: Wie bitte? Äh, ja, also, man muss wissen, früher waren wir an der Uni. Und tatsächlich gibt es einige, die das als „Projekt“ ausgerufen haben. Man könnte auch sagen: Wir verfolgen dieses Projekt schon lange. Manche träumen von den Zuständen im Audimax der Uni und sehnen sich schon fast zurück. Sie schwärmen davon, wie herrlich schlecht die 16mm-Projektoren gepflegt waren; die Lampen uralt und so schwach, dass das Filmbild auf der Leinwand viel zu dunkel war. Und dann das Geräusch der ratternden Projektoren, so dass auch der Ton nur schwer zu verstehen war.

Jetzt im Roxy fehlt vielen von uns einfach das Projektorengeräusch. Aber im Podium und erst im Fischkult …

Ja, der Fischkult ist der bisher größte Erfolg unseres Projektes „Kino Extrem“.

Frage: Wenn ich mir eine Zwischenfrage erlauben darf: Die Veranstaltungen im Fischkult sollen aber schlecht besucht sein. Und manche Besucher sagen, gerade weil der Raum überhaupt keine Kinoatmosphäre hat.

Antwort: Du willst mich offenbar nicht verstehen. Es geht uns doch bei diesem Experiment gerade darum, Kino an kino-feindlichen Orten zu machen. Du hast einen kleinbürgerlich-idealistischen Begriff vom Kino. Wahrscheinlich schaust Du dir jeden kommerziellen Dreck an. Wir betrachten den Fischkult als sehr interessantes Experiment. Es ist kalt, es muffelt, ständig gibt es Ärger mit der Technik. Gerade dieses Dilettantische, Unberechenbare, ist ein wesentliches Element unseres Kinos, das ist unsere Art, Kultur zu machen.

(Das Mitglied des Kommunalen Kinos versinkt in einen tagtraumartigen Zustand und wirkt reichlich entrückt)

Frage: Glaubst Du nicht, dass dieses Projekt mit dem anspruchsvollen Titel „Kino extrem“ Euch viele Zuschauer kosten könnte? Sagen jedenfalls etliche Stammgäste, mit denen ich gesprochen habe. Ich habe schon Meinungen gehört, das wäre Kino im Kamikaze-Stil.

(„Kamikaze“ wirkt wie ein Stichwort, das das Mitglied des Kommunalen Kinos in die wirkliche Welt zurückholt) Nur seine Antwort ist rätselhaft …

Antwort: Nein, Kurosawa war der Regisseur.

Frage: Ich hatte gehofft, Du würdest mir zuhören.

Antwort:  Ich darf doch bitten, Du hast mich doch nach dem Regisseur des letzten japanischen Films gefragt, den wir gezeigt haben? Es war eben nicht Kamikaze, sondern Kurosawa. Aber wenn ich doch bei Kamikaze bleiben darf, das ist geradezu ein Stichwort für mich: Du hast es wirklich auf den Punkt getroffen. Hat Seltenheitswert bei Journalisten, oder solchen, die es sein wollen. Jetzt schweife ich doch wirklich etwas ab. Was wollte ich sagen? Ach ja: Wir wollen vermehrt japanische Filme zeigen, die hier in Konstanz noch nie gezeigt wurden und die keiner kennt. Jetzt stelle ich mal eine Frage:
Hast Du schon mal von dem Film „Eine Seite des Wahnsinns“ gehört?***

Frage bzw. Antwort von Felix Schaulust: Nein, noch nie.

Antwort: Du bist einfach ein Ignorant, Du solltest endlich mal zur Berlinale fahren. Wieso schickt mir Eure Zeitung jemanden, der nicht mal zur Berlinale fährt? Du bist doch einfach nicht kompetent genug, um mich überhaupt zu interviewen. Ich werde mich bei der Zeitung beschweren.

Frage. Mach es nur; vielleicht darf ich dann doch mal zur Berlinale und bekomm’s bezahlt. Ein Traum von mir. Ich wollte Dich noch fragen: Gibt es dann noch mehr japanische Filme?

Antwort: Ja, z. B. „Tagebuch eines Shinjuku-Diebes“ von Nagisa Oshima, und vielleicht wird es eine Kobayashi-Retro geben. Du brauchst aber nicht befürchten, dass wir in den alten Fehler verfallen und eine Reihe „japanische Filme“ zeigen.

Frage: Verstehe ich Dich richtig? Ist es nicht gerade essentieller Teil eines Konzepts kommunaler Filmarbeit, Filme in Zusammenhängen zu zeigen, ob es nun um nationale Kinos, um Regisseure oder um thematische Kontexte geht?

Antwort: Kann schon sein, aber meiner Ansicht nach langweilt das nur das Publikum. Wir stellen Programme zusammen, in denen jeder Film für sich steht, bei denen sich der Zuschauer für jeden Film entscheiden kann. Abwechslung ist unser Credo  … klar?

Bei diesen Aussagen konnte der cinephile Felix Schaulust nicht mehr an sich halten. Er beging einen Fehler (aus journalistischer Sicht) und kommentierte anstatt weiter zu fragen.

Felix Schaulust: Ein programmatisches Durcheinander ist das, nichts anderes. Wirrwarr und Gewurschtel, sagen viele Leute, die eigentlich gerne ins Kino gehen. Du solltest mal Euer Publikum fragen. Wodurch unterscheidet sich Euer Programm noch von einem mittelmäßigen Programmkino? Vielleicht aber eine ganz konkrete Frage. Wir haben gehört, Ihr wollt in Kürze unter dem schon genannten Titel „Kino extrem“ eine Reihe Experimentalfilme zeigen? Die niemand sehen will, fürchte ich.

Antwort: Ein abgrundtiefes Missverständnis. Mit „Uliisses“ und ähnlichen Filmen wollen wir unser Publikum nicht verärgern. War wir vorhaben, das ist ein bisher einmaliges Experiment nicht nur in der Geschichte des Kommunalen Kinos, nein, sondern schon fast in der Filmgeschichte.

Frage: Da darf man gespannt sein. Aber kommen wir jetzt zu aktuellen Entwicklungen. In Konstanz geht das Gerücht um, das Kommunale Kino hätte einen Raum gefunden und müsste nur noch selbst entscheiden, ob es diesen Raum nutzen will. Kannst Du uns etwas zu dieser Entwicklung sagen? Habt Ihr Euch schon entschieden?

Antwort: Wir können den Raum nicht nehmen. Unser heißgeliebtes Projekt „Kino extrem“ ist dort nicht möglich. Der Raum hat eine abgetrennte Vorführkabine und sogar einen abgeschrägten Boden.

Frage des verdutzten Felix Schaulust: Aber, aber das sind doch fast ideale Bedingungen, das ist fast ein richtiges Kino?

Antwort: Ich muss es Dir wohl nochmals sagen: Du hast einen vollkommen abstrakten Begriff von Kino, eigentlich ist das nur Ausdruck Deines jämmerlich kleinbürgerlichen Denkens.

Frage: Das soll aber, wie ich gehört habe, nicht die Ansicht aller Mitglieder oder Mitarbeiter des Kommunalen Kinos sein. Also die Ablehnung des Raumes.

Antwort: Ist das eine Frage oder eine Unterstellung?

Felix Schaulust: Lassen wir’s lieber. Eine weitergehende Frage: wenn Ihr, nehmen wir mal an, interne Differenzen habt, tauscht Ihr Euch vielleicht mit anderen Spielstellen, also Kommunalen Kinos aus, wie z. B. den schon etablierten Kommunalen Kinos in Freiburg oder in Stuttgart?

Antwort: Allmählich finde ich Deine Fragerei reichlich grenzwertig. Aber ich sag’ es Dir trotzdem: Nein, wir telefonieren nicht mit Freiburg oder Stuttgart. Überhaupt nicht. Wozu denn? Warum sollten wir unseren Horizont erweitern? Wir machen Kino in Konstanz; wir bleiben in der Provinz, der Rest der BRD interessiert uns nicht. Wir müssen für uns selbst rausfinden, wie wir Kino machen wollen.

Frage: Ihr schmort also lieber im eigenen Saft?

Antwort: So kann man das wirklich nicht sehen.

Frage: Kommen wir nochmal auf ein Thema, das wir schon gestreift haben. Nach welchen Kriterien gestaltet Ihr Eure Programme?

Antwort: Allmählich nervst Du. Aber bitte zum Mitschreiben: Wir versuchen immer, uns Einflüssen von außen zu öffnen und nicht nur rein cineastische Kriterien anzuwenden. Deswegen lehnen wir es zum Beispiel grundsätzlich ab, nach dem Tod irgendeines bekannten Regisseurs oder eines Filmstars, eine Retro zu der Person zu machen. Weder nach dem Tod von RW Fassbinder oder von Hitchcock, noch als Ingrid Bergmann gestorben war, gab es bei uns die dämliche Retro wie das bei anderen Spielstellen üblich war. Wir sind stolz darauf.

Frage: Und was sind dann Eure Kriterien?

Antwort: Na, zum Beispiel: 10 Jahre Putsch in Chile, oder 15 Jahre Putsch in Griechenland, oder der 131. Geburtstag von Friedrich Engels.

Frage: Kurze Zwischenfrage: Welche Filme zeigt Ihr dann zu diesen Anlässen.

Antwort: So eine dumme Frage, also z. B. „Zu früh, zu spät“ von Straub/Huillet. Und zum Griechenlandputsch natürlich „Die Wanderschauspieler“ von Angelopoulos.

Frage: Könnte man diese Filme nicht auch ohne diese – entschuldige die deftige Formulierung – an den Haaren herbeigezogenen Anlässe zeigen?

Antwort: Das ist doch jetzt nur noch polemisch, und überhaupt, Du verstehst doch sowieso nichts von Kino, und ich habe dieses Interview jetzt vollkommen satt. Schluss der Vorstellung.

 

Nachbemerkung: Der Mitarbeiter des Kommunalen Kinos bricht das Interview ab und verlangt dann von Felix Schaulust, das ganze Gespräch, das mit einem Kassettenrecorder aufgenommen wurde, zu löschen. Felix Schaulust weigert sich, und als der Mitarbeiter des Kommunalen Kinos selbst das Gespräch löschen will, findet er glücklicherweise den richtigen Knopf nicht.

So ist dieses denkwürdige Dokument der Arbeit eines kleinen Kommunalen Kinos in der süddeutschen Provinz der Nachwelt erhalten geblieben.

Anmerkungen

** Ein Mitarbeiter des Kommunalen Kinos Konstanz war Franz Schwarzbauer, mit dessen Name sich der Verfasser diesen Sprachwitz erlaubt hat. Franz Schwarzbauer war bis zu seiner Pensionierung Leiter des Kulturamtes der Stadt Ravensburg.

*** „Eine Seite des Wahnsinns“, japanischer Stummfilm von Kinugasa Teinosuke (1926); ein absolutes Meisterwerk des japanischen Stummfilms. „Die eigentliche Sensation“ des Internationalen Forums des Jungen Films im Jahr 19??. Da die Kopie, die bei den „Freunden der Deutschen Kinemathek“ zu haben ist (Stand ca. 1983), die einzige ist, die in der BRD verfügbar ist, kann ich angesichts der technischen und sonstigen Bedingungen nur hoffen, dass das Kommunale Kino Konstanz diesen Film nicht bekommt und nicht zeigen kann. (schrieb Felix Schaulust als der Text entstand).

Ein Kommentar von 2022:
Auch dieses Beispiel  zeigt, dass es damals den Mitarbeiterinnen  und Mitarbeitern des Kommunalen Kinos nicht darum ging, ein Programm zu machen, mit dem das Publikum adäquat hätte erreicht werden können. Nein, irgendein Mitglied hatte in Berlin den Film gesehen, war von ihm begeistert und meinte dann, der Film müsste ins Programm. Das ist eine Art missionarischen Eifers. Und so galt das für die meisten Mitarbeiter und dann für die meisten Filme im Programm. Das Ergebnis waren dann Patchwork-Programme ohne jeden inneren Zusammenhang.