Die Aufnahme des osteuropäischen Films der Tauwetterperiode im Westen

Text aus dem Programm des Kommunalen Kinos Karlsruhe

Nach dem Tode Stalins konnten Literatur, Kunst und Film in den sozialistischen Ländern endlich Themen aufgreifen, die ihnen zuvor versperrt waren. Die „Abkehr vom heldenmütig schönfärberischen Optimismus der stalinschen Epoche“, der „Abbau der Dogmen vom ‚positiven Helden‘“ erlaubte den Regisseuren, die alten Stoffe aufzugeben und sich neuen zuzuwenden.* „Der Krieg ist nicht länger mehr nur heroisches Stimulans“**, im Film kann die Geschichte entmythologisiert werden; Einsamkeit und Enttäuschung werden Themen der neuen Filme.

So ist in „Asche und Diamant“ ein Nationalist, der die Kommunisten bekämpft, der zentrale Held; und in „Wenn die Kraniche ziehen“ geht es um das moralische Versagen eines einzelnen Menschen.

Im Westen wurden diese Filme z. T. begeistert begrüßt. Jedoch hatte fast jeder dieser Filme ein sehr individuelles Schicksal. Ein Teil der westlichen Kritiker übersah z. B. die geschichtliche Dimension von „Asche und Diamant“ und betonte einseitig den Konflikt zwischen älterer und jüngerer Generation. Der junge Hauptdarsteller Cybulski wurde zum polnischen „James Dean“ stilisiert. Daneben gab es auch Stimmen, die am Kalten Krieg festhalten wollten und deswegen z. B. Kalatozows Film nur als „… das gefährliche Gift der Aufweichung einer entschlossenen antikommunistischen Haltung“ betrachteten (Neue Zürcher Zeitung).

Auf der anderen Seite – im Osten – stand die sozialistische Filmkritik einigen der neueren Filme mehr oder weniger hilflos gegenüber  – wenn auch ihr Rang rasch erkannt wurde. Orthodoxen Ansichten entsprachen diese Filme sicher nicht. Noch 1975, nachdem das „Tauwetter“ schon Geschichte geworden war, formulierte Jerzy Toeplitzu eine Kritik an „Asche und Diamant“. Er warf dem Film „Mangel an kontinuierlichem historischen Denken“ vor.

Die „Tauwetterperiode“ fand nicht nur in den neuen Filmen ihren Ausdruck. Zu ihr gehörte auch, dass das Verbot des 1951 entstandenen DEFA-Films „Der Untertan“ 1957 in der BRD aufgehoben wurde; zu ihr gehört auch, dass der 2. Teil von Sergej Eisensteins Film „Iwan der Schreckliche“, nachdem er über ein Jahrzehnt ins Archiv verbannt gewesen war, 1959 sowohl in der Sowjetunion als auch im Westen in die Kinos kam. Der Vortrag soll die die hier angedeuteten Probleme der unterschiedlichen Aufnahme der Filme von Wajda und Kalatozow usw. im Osten und Westen eingehend darstellen. Gefragt werden soll besonders nach dem Gründen für die unterschiedliche Aufnahme und Funktion der Filme in der bürgerlichen bzw. in der sozialistischen Gesellschaft.

Josef Jünger (am 6. Juni 198??)