Begegnung am Ostkreuz

Begegnung am Ostkreuz –  Oder: Misslungenes Leben

 

Im Mai 2018 war ich in Berlin zum Vorbereitungstreffen eines Cinegraph-Kongresses. Eines Tages fuhren wir gemeinsam mit der S-Bahn nach Hoppegarten, um das Nitrat-Archiv des Bundesarchiv/Filmarchivs zu besichtigen.

Am Ostkreuz stiegen wir um und als wir über eine Brücke gingen, bemerkte ich plötzlich, dass mich ein älterer Mann ansah, der uns entgegenkam. Seine Kleidung,  an die ich mich nur vage erinnern kann, war abgenutzt und alt, in der Hand hielt er eine ebenso abgenutzte Aktentasche, die mir  aber weitgehend leer  erschien.

Ich schaute ihn an und glaubte zu meiner Überraschung, ja schon fast Bestürzung, jemanden zu erkennen, den ich seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wäre ich nicht in der Gruppe gewesen, die ich nicht verlassen konnte, weil ich den genauen Weg nach Hoppegarten nicht kannte, hätte ich den älteren Mann angesprochen. So aber war ich gezwungen weiterzugehen.

Im Vorübergehen sah ich ihn immer noch an, und bermerkte, wie ein Zucken seine Mundwinkel verzog.. Hatte er  mich ebenfalls erkannt? Das Zucken um die Mundwinkel  Ausdruck des Gedankens, dass es sinnlos sei, sich an die alte Freundschaft zu erinnern, da wir uns solange nicht gesehen hatten – 40 Jahre etwa waren vergangen, seit Hans-Martin die kleine Wohngemeinschaft in Stuttgart verließ, um in Hannover Medizin zu studieren.

Hans-Martin: Wir kannten uns von der gemeinsamen Ausbildung bei der Fa. Hans Thomae in Biberach, wo wir beide Chemielaboranten wurden. Das war vom Januar 1967 bis zum Juni 1970.

Hans-Martin war ein ziemlich wildes Proleten-Kind aus dem schwäbischen Allgäu, wenn ich mich richtig erinnere, aus Memmingen oder Umgebung davon. Er hatte eigenwillige Ansichten, die er selbstbewusst äußerte, las philosophische Literatur und war in unserer Gruppe der Chemielaboranten-Lehrling in vielerlei Hinsicht eine Art Meinungsführer. Ich hingegen mühte mich noch darum, irgendwie erwachsen zu werden, fühlte mich im Labor wie eingesperrt und war persönlich eher zürückhaltend und leise. Schüchtern gegenüber Mädchen sicher auch.

Es kam das Jahr 1968, der Aufbruch der Studenten und der Jugend, der viele von uns mitriss. In Biberach gab es eine kleine Gruppe von jungen Leuten, die sich zur sog APO (Außerparlamentarische Opposition) rechneten. Auch von uns Lehrlingen politisierte sich ein mehr oder weniger kleiner Teil. Insbesondere unser Lehrjahr war stark vertreten. Wir fanden Kontakte und Freunde in der Stadt, wo es vor allem Schüler und Schülerinnen des Gymnasiums waren, die sich politisierten, wie man damals sagte.

Dann kamen irgendwann Drogen auf; zuerst Haschisch und spätere auch sog. bewusstseinserweiternde Drogen, wozu z. B. auch LSD gezählt wurde. Hans-Martin und ich kamen ebenfalls mit diesen Drogen in Kontakt, ich etwas später als er. Das geschah im Laufe unseres letzten Jahres in der Ausbildung, also 1970. Ende Juni endete unsere Ausbildung und ich hatte beschlossen, das neu gegründete Kolping-Kolleg in Friedrichshafen zu besuchen und nicht nach Stuttgart zu gehen, wie Hans-Martin. In Friedrichshafen konnte ich außerdem bei meinen Eltern wohnen, ein preisgünstige Möglichkeit. So trennten sich Hans-Martins Wege und meine fürs erste.

Es war wohl noch im Sommer 1970, dass ich so ziemlich spontan nach Biberach fuhr, um ein paar meiner Freunde zu besuchen. Dazu zählten auch ein Dieter. und Dietmar, die in einer WG wohnten, wo es ziemlich wild zuging. Dort kam ich unter, und lag nachts mit einem jungen, hübschen Mädchen, Nina,  im Bett, die mich regelrecht verführte. Sie und ihr späterer Freund Moritz, sollten für einige Jahre zu guten Freunden werden.

Nina und Moritz kamen öfters zu Besuch nach Friedrichshafen und dann gingen wir in einem indischen Restaurant in Wasserburg am Bodensee essen. Das einzige indische Restaurant weit und breit, und wenn ich an das Essen denke, weiß ich nur noch, dass es höllisch scharf war, ob es wirklich gut war, so wie ich das heute beurteilen würde, wage ich zu bezweifeln. Es war wohl wichtiger, dass es indisch war, denn wir allen träumten von Indien – dem Indien der Yogies und der hindischen und buddhistischen Spiritualität.

Hans-Martin wohnte in Stuttgart in einem Wohnheim in einem kleinen Zimmer, wo ich ihn besuchte, als ich in Stuttgart zum Konzert der Rolling Stones ging (ist bekannt, auf dem Killisberg) mit einigen noch relativ unbekannten Phänomenen, z. B. einer wütenden Menge von Fans, die die Halle ohne Eintrittskarten stürmen wollten. Die Polizei hatte zu tun.

Da ich ziemlich hippie-mäßig drauf war, wenig lernte und in den Tag hinein lebte, kam was kommen musste: nach zwei Jahren schaffte ich das Klassenziel nicht und zog zur Wiederholung nach Stuttgart. In Stuttgart war es sehr schwierig, ein bezahlbares Zimmer zu finden, aber nach einigen Monaten wurde mir vom Vater eines Klassenkollegen eine kleine Zwei-Zimmerwohnung angeboten. Hans-Martin zog gerne mit ein. Nach einem Jahr machte Hans-Martin das Abitur und ging nach Hannover, um dort Medizin zu studieren.

Im Laufe des Jahres kam auch mal Nina mit einer Freundin zu Besuch, Lena; Hans-Martin schlief mit Nina; ich mit Lena. So war das damals, die festen (?) Freunde, die sowohl Nina als auch Lena hatten, interessierten  nicht. Die zwei brauchten wohl eine Pause von ihren Beziehungen. So kam es mir wenigstens damals vor. Sonst wären sie ja nicht zu uns zu Besuch gekommen.

Als Hans-Martin eines Tages erklärte, dass er beabsichtigte, Medizin zu studieren, überraschte mich das ziemlich. Denn er las, wie schon erwähnt, vor allem Bücher von Philosophen; ich diskutierte mit ihm oft über die Schriften der Anarchisten, insbesondere über Max Stirner. Gut, Medizin also.

Dann brach der Kontakt ab; ich besuchte ihn nie in Hannover und er kam nie nach Stuttgart. Über Jahre hörte ich nichts von ihm, erfuhr aber von Dritten, dass er irgendwann nach Berlin umgezogen war, vermutlich, um dem Wehrdienst zu entgehen.

Als ich einmal in den achtziger Jahren wieder in Berlin zu den Filmfestspielen war, wollte ich ihn unangekündigt besuchen. Auf irgendeine Weise hatte ich seine Adresse gefunden; damals konnte man Adressen noch relativ leicht einfach im Telefonbuch finden. Hans-Martin wohnte in Kreuzberg in der Willibald-Alexis-Straße.  Eine Straße, schon damals stark von der türkischen Bevölkerung geprägt mit hohen schmucklosen Mietskasernen der einfachsten Art; ein Arbeiterviertel. Ich fand die Adresse, er wohnte offenbar alleine, nicht in einer WG und auch nicht mit jemandem zusammen. Dann verließ mich der Mut. Ich klingelte nicht; die Vorstellung, ihn völlig unangekündigt zu besuchen, ließ mich eine nicht vorhersehbare Reaktion vermuten. Was, wenn ihm mein Besuch doch nicht passen würde?

Ich hörte weitere Jahre nichts von ihm. Es kam die Zeit des Internets, das das Auffinden aller möglichen Informationen bot. Irgendwann gab ich in eine Suchmaschine den Namen ein.  Einen Arzt mit seinem Namen konnte ich nicht finden. Aber ein paar Leserbriefe philosophischen Inhalts in Ärztezeitschriften.

Ich fragte mich, ob er sein Studium beendet oder abgebrochen hatte, ob er vielleicht als Arzt irgendwo arbeitete, aber ich fand nie eine Antwort auf diese Fragen. Man muss wohl eher annehmen, dass er eben nicht Arzt geworden ist. Aber wovon hat er gelebt?

Foto: Von Roehrensee – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26162426

Schließlich der Tag im Mai 2018. Ein alter, ziemlich gealterter und vom Leben gezeichneter Mann, ärmlich gekleidet, der offenbar seine Lebensziele nicht erreicht hatte. Aber was waren wohl seine Lebensziele?

Das Zucken um seine Mundwinkel werde ich nicht vergessen. … Alles umsonst! … Wozu mit mir sprechen?  Es wird nichts anders und besser deswegen.

 

Ein Text unter Schmerzen geschrieben – insbesondere das Bild, das mir von Hans-Martin auf  der Brücke des Ostkreuzes geblieben ist. Er erschien mir schon fast wie die Metapher des misslungenen Lebens. Das schmerzt mich. Aber wer weiß, wie er das sehen würde. Was wollte er im Leben erreichen? Ich weiß es nicht, und es ist schwer zu sagen. Vielleicht strebte er einfach nicht nach dem, was wir gewöhnlich Erfolg nennen.

Ich selbst war eine lange Zeit im Leben nicht sonderlich ehrgeizig und hatte eigentlich keine bestimmten Ziele. Das kam aus meinem Elternhaus, das mich nicht so erzogen hatte, dass ich im Leben nach etwas strebte, das sich vordergründig Erfolg nennen könnte.

Musik für diesen Beitrag: „It’s all over now – Baby Blue“, Song von Bob Dylan, hier singt Marianne Faithfull.

Auf dem Youtube-Account von Estelle McCartney, wo ich den Song gefunden habe, ist zu lesen: „Thank you very much for the 1M views! This video it’s very special to me because it was made when I felt a great connection with the lyrics of the song for me this was made from the deepest part of my soul. This song defines what it’s to feel lost, abandoned by the people you love and the moment when you discover that you are the only one in charge of your life. If you feel this way I want you to know you’re not alone, you’ll find your way someday, I’m still searching for it too…“

Das Video besteht aus Einstellungen des Films „The Girl on a Motorcycle“ aus dem Jahr 1968, in dem Marianne Faithfull die weibliche Hauptrolle spielte. Der Song selbst ist in dem Film nicht zu hören.

Karlsruhe, im August 2023