Dingsdahausen

Albert Geigers 1924 postum erschienener Schlüsselroman „Die versunkene Stadt“ inspirierte mich zum Namen für diesen Teil der Website . Der Roman spielt in einer „mittleren Residenzstadt im südwestlichen Deutschland“, wie es bei Albert Geiger heißt, die unschwer als Karlsruhe zu identifizieren ist.

Die „Gesamtphysiognomie“ Dingsdahausens beschreibt Albert Geiger wie folgt: (S. 14)

„Eine Beamtenschaft in der üblichen Art. Eine über sich selbst und ihre Zwecke mehr im Unklaren als im Klaren befindliche Bürgerschaft. Eine der Erneuerung dringend bedürftige Gelehrten- und Künstlerschaft. Eine ab- und zuströmende Militärbevölkerung. Ein mehr oder minder neugebackener Adel. Und als unruhige Welle, um das alles umherbrandend, eine Arbeiterbevölkerung, die zur Seßhaftigkeit weniger neigte als in vielen andern Städten. Überall aber fehlte der feste Untergrund. Vielleicht mochte es mit dem geheimen Gefühl dieses Fehlens zusammenhängen, daß die Schwesterstädte im Land mit der Residenz Dingsdahausen nur einen äußerst losen Zusammenhang hatten. Jede dieser Städte bedeutete für sich ein Ganzes und Eigenes. Nur die Residenz war und blieb: eine Halbheit, schwankend zwischen Beamtenstadt und Gewerbestadt.

Daran konnte auch der seit einigen Jahren gegründete „Verein zur Hebung des Fremdenverkehrs“ nichts ändern. Er bemühte sich zwar, in allerlei Broschüren und Farbentafeln für die Bahnhöfe, Hotels Restaurants darzutun: daß Dingsdahausen an der Spitze aller Schwesterstädte marschiere. Daß es die vorzüglichsten Schulen, die glänzendsten Verkehrsmittel, das beste Theater, die angenehmsten Spaziergänge, die komfortabelste Aufnahme böte, kurzum, daß jeder Durchreisende die verdammte Pflicht und Schuldigkeit hätte, auszusteigen, die architektonischen, die gesellschaftlichen, die landschaftlichen Reize von Dingsdahausen zu bewundern, und zum Genusse dieser Stadt in ihren erstklassigen Hotels mindestens acht Tage zu verweilen. Allein die Fremden bezeigten sehr wenig Lust, auszusteigen. Und so war ein Mißverhältnis zwischen Selbsteinschätzung dieser Stadt und Einschätzung durch die Außenstehenden.“ *

Man kommt nicht umhin, Albert Geiger Recht zu geben. Auch heute noch besteht der von Geiger angesprochene Unterschied zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung. Die Probleme der Stadt mit ihrem eigenen Stadtmarketing sind sprichwörtlich. Karlsruhe scheint immer noch eine durch ihre Beamtenschaft, insbesondere die vielen Juristen der in Karlsruhe angesiedelten Gerichte, einerseits, andererseits durch die hohe Zahl von IT-Spezialisten, von natur- und ingenieurwissenschaftlichen Akademikern geprägte Stadt zu sein. Die Kulturwissenschaften werden hier mit großer Selbstverständlichkeit als Schwätzwissenschaften abgetan, und die  Folgen sind auch in der Frequentierung der kulturellen Einrichtungen erkennbar. Felix Schaulust hat oft erfahren müssen, dass Naturwissenschaftler usw. zum Besuch von Musikveranstaltungen tendieren und sprachlich geprägte Veranstaltungen, insbesondere das Sprechtheater, gerne vermeiden. Grund: bei Musik muss niemand etwas „verstehen“; beim Sprechtheater ist im schlimmsten Fall schnell nachzuvollziehen, ob der Besucher/die Besucherin etwas „verstanden“ hat.

*S. 14 f. in der von Hansgeorg Schmidt-Bergmann und Thomas Lindemann herausgegebenen Wiederveröffentlichung in der Kleinen Karlsruher Bibliothek (2006).

Foto mit Banner Science statt Fiction Audimax KIT
Dieses Banner ließen KIT und Stadtmarketing am Audimax anbringen, als man zum ersten Mal Elite-Universität geworden war. Jeder Kommentar überflüssig. In der rechten unteren Ecke das Ortsschild mit dem nicht zu unterbietendem Spruch „Karlsruhe viel vor und viel dahinter“, ebenfalls eine Erfindung des damaligen Leiters des Stadtmarketings. Foto: © Josef Jünger