„Anna Christie“ und die Bilder in meinem Kopf

Für meine Mutter Viktoria  – und für jene, ohne die dieser Text nicht entstanden wäre.

  1. „Anna Christie“  

Englische Fassung: Clarence Brown; deutsche Fassung: Jacques Feyder  (1930)

Mein Talent, meine Neigung zum Kino und zum Film habe ich von meiner Mutter ererbt. Das habe ich erst sehr spät festgestellt, als ich meine Mutter durch zahlreiche Fragen dazu brachte, mir von ihren Kinobesuchen in ihrer Jugendzeit zu erzählen.

Als sie viele Jahre später verheiratet war, ging sie nur noch sehr selten ins Kino und hatte schon im Alter von 40 bis 50 Jahren eine Neigung zu heiteren und leichten Stoffen, zu Unterhaltungsfilmen im Stile von „Sissi“. Ich musste als Kind sie in eine „Sissi“-Vorstellung begleiten, weil meine Mutter offenbar auch ein Fan der österreichischen Kaiserin war, die allerdings schon Jahre vor der Geburt meiner Mutter im Jahr 1914 ermordet worden war. Meine Mutter kam in Czernowitz, in der Bukowina zur Welt, das damals österreichisches Kronland war.

Natürlich fiel bei mir der Groschen nicht, als ich „Sissi“ mit Romy Schneider in Friedrichshafen am Bodensee im Kino „Scala“ sehen durfte oder musste. Besonderes Vergnügen bereitete mir der Film meiner Erinnerung nach nicht. An die Vorführung kann ich mich noch erinnern, auch wenn ich da gerade mal fünf Jahre alt war.

Es dauerte dann ziemlich lange, bis ich sozusagen mein cineastisches Initiationserlebnis hatte, und es war ein Film von François Truffaut, der dieses Erlebnis darstellte: „La Mariée était en noir“ (dt: Die Braut trug schwarz) mit der so hervorragenden Jeanne Moreau, einer herben Kinoschönheit. Der Ort war übrigens ein von Adrian Kutter im oberschwäbischen Biberach/Riß geführtes Kino. Bald darauf begann die Zeit der Verachtung des Erzählkinos durch breite Kreise der deutschen Intellektuellen und man durfte kaum noch sagen, dass man François Truffaut schätzte. Später beschäftigte ich mich eines Tages selbst mit der Frage, warum es ausgerechnet ein Film von Truffaut gewesen war. Die Antwort ist leicht zu geben: bei ihm ist jede Einstellung genau kalkuliert in ihrer visuellen Form und in ihrer Wirkung. Da gibt es keinen Zufall. Das war es, was bei mir den Groschen fallen ließ.

Jeanne Moreau in „La Mariée était en  noir“ (Die Braut trug Schwarz)
von  François Truffaut

Aber kommen wir zurück zu meiner Mutter. Bei einem meiner Besuche erzählte sie mir, dass sie auch einen der ersten Farbfilme gesehen hatte. Es war wohl „Mystery of the Wax Museum“ (dt: Das Geheimnis des Wachsfigurenkabinetts“ aus dem Jahr 1933, ein Zwei-Farben-Technicolorfilm. Sie konnte sich noch mehr als vierzig Jahre später an diesen Film erinnern und erzählte mir, dass am Tag drauf, als sie das den Leuten an ihrem Arbeitsplatz erzählte, ihr nicht geglaubt wurde. Worüber sich meine Mutter offenbar sehr geärgert hatte. Ich selbst wunderte mich, dass sie diesen Horror-Film gesehen hatte; ich kannte ihre Neigung zu leichten Stoffen, zu Komödien usw., die aber offenbar auch eine Entwicklung war, die sich im Laufe ihres Lebens ergeben hatte. Jedenfalls entgegnete sie mir: „Ach, da war ich doch noch so jung.“ Da hatte der Horror ihr also nichts ausgemacht.

„The Mystery of the wax museum“ (Das Geheimnis des Wachsfigurenkabinetts)
von Michael Curtiz, USA 1933, Foto vermutlich aus der DVD.

Die Abneigung gegenüber dem Horror war offenbar ein Ergebnis von Lebenserfahrungen; schließlich hatte meine Mutter die Ausreise aus Rumänien und die Übersiedlung ins Deutsche Reich nach dem Hitler-Stalin-Pakt zusammen mit ihren Eltern gemacht. Wobei sie allerdings nie im eigentlichen Deutschen Reich ankamen, sondern in den besetzten polnischen Gebieten, im sog. „Generalgourvernement“, angesiedelt wurden. Zuerst in Lagern, dann in Häusern und Wohnungen, die der polnischen Bevölkerung weggenommen, besser gesagt: gestohlen worden waren. Jedenfalls lebte meine Mutter bis zum 21. Januar 1945 in einem Dorf namens Kety (dt: Kenty) ca. 20km von Auschwitz entfernt. An diesem Tag, also am 21. Januar 1945, wurde die deutsche Bevölkerung aus diesem Gebiet evakuiert. Am 27. Januar 1945 befreite bekanntlich die Rote Armee das KZ Auschwitz.

Meine Mutter hatte also ihre ersten Kinobesuche in Czernowitz gemacht. Nach ihren Erzählungen ging sie offenbar meistens allein ins Kino. Czernowitz war damals eine sehr multikulturelle Stadt; die größte ethnische Gruppe war die jüdische, die etwas mehr als 30% der Bevölkerung ausmachte. Die Juden sprachen bekanntlich Deutsch und Jiddisch. Meine Großmutter mütterlicherseits kam aus einem Dorf namens Sadagora, das auf der der Stadt Czernowitz gegenüberliegenden Seite des Pruths liegt. Sadagora war ein Zentrum des Chassidisums, einer Sekte des Judentums. Dann lebten in Czernowitz natürlich Rumänen, ferner Ukrainer, Polen, Roma und noch kleinere Ethnien, die vor allem aus den Karpaten kamen. Czernowitz und die Region, die Bukowina, gehörte nach dem Ende Österreichs-Ungarn, also  seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu Rumänien. Die Stadt liegt am Ostabhang der Karpaten an dem Fluss Pruth. Die Nordbukowina mit Czernowitz wurde durch den Hitler-Stalin-Pakt dem sowjetischen Einflussbereich zugeschlagen und wurde dann Teil der Sowjetunion; die Südbukowina blieb bei Rumänien. Heute liegt Czernowitz in der Ukraine.

Zeitgenössische Postkarte (von: delcampe.net)

Das endlich vor dem Verfall gerettete Palais im Jahr 2010 (© Foto: Josef Jünger)

Meine Mutter lebte mit ihren Eltern in einem Vorort von Czernowitz, in dem ein großer Teil der deutschen Bevölkerungsgruppe wohnte. Um ins Stadtzentrum zu kommen, wo die Kinos sich befanden, musste meine Mutter zuerst zur Endstation der Straßenbahn gehen und erst dann konnte sie mit dieser ins Stadtzentrum fahren. Deswegen denke ich, dass sie sicher nicht als Kind ins Kino gehen konnte. Jedenfalls hat mir meine Mutter nie etwas von einem Besuch eines Stummfilms erzählt. Es muss in Czernowitz Kinos für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegeben haben, so wie es auch Zeitungen in deutscher und rumänischer Sprache gab. Fast jede Bevölkerungsgruppe hatte auch ein eigenes Haus. Das Gebäude, in dem das Deutsche Haus sich befand, gibt es immer noch. Und auch das Jüdische Haus, das die sehr kleine verbliebene jüdische Gemeinde  zu einem Museum umgestaltet hat, hat die Zeitläufte überstanden. Die Beschädigungen, die im Laufe des Zweiten Weltkrieges entstanden, sind zum Teil noch sichtbar.

Zeitgenössische Postkarte (von: delcampe.net)

 

Herrengasse im Jahr 2010 ( © Foto: Josef Jünger)

Eines Tages konnte ich dann sehr konkret feststellen, dass meine Mutter ein untrügliches Gefühl für die Qualität eines Filmes hatte. Ich war bei ihr in Friedrichshafen zu Besuch, und im Fernsehen lief „Anna Christie“, dieses berührende Melodram, in der deutschen Fassung mit Greta Garbo. Bekanntlich der einzige Film, in dem Greta Garbo Deutsch spricht. Meine Mutter setzte sich vor den Fernseher und stand erst wieder auf, als der Film zu Ende war. So wurde mir endgültig klar, dass ich mein Talent und meine Neigung für das Kino von meiner Mutter mitbekommen habe.

  1. Die Bilder in meinem Kopf

Heute weiß ich nicht mehr, wann mir das zum ersten Mal geschah: Jedenfalls musste es gewesen sein, als ich das Lied „Schlaf Kindlein schlaf“ gehört haben muss. Ich nehme an, dass es im Kindergarten war, also so zwischen 1954 und 1956. Es gab damals noch eine andere Version dieses Kinderliedes: „Schlaf Kindlein schlaf, der Vater hüt´ die Schaf, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, schlaf Kindlein schlaf.“ Und wenn ich dieses Lied hörte, entstand vor meinem inneren Auge das Bild einer flachen Landschaft mit brennenden Gebäuden im Hintergrund; ich meine immer es wäre eine Windmühle dabei.

Nur war ich als Kind niemals in Pommern gewesen, noch hatte mir meine Mutter erzählt, wo sie sich zur Zeit des Angriffs auf Dresden befand. Das erfuhr ich  erst Jahrzehnte später: sie war mit ihren Eltern in einem kleinen Dorf westlich von Dresden untergebracht; sie sahen den Angriff auf Dresden, sie wussten, dass sich viele, viele Flüchtlinge aus den evakuierten Gebieten Oberschlesiens in Dresden aufhielten.

Woher kamen also die Bilder in meinem Kopf? Es gibt nur eine Erklärung: Ich kann diese  Bilder in meinem Kopf letztlich nur von meiner Mutter ererbt haben. Natürlich konnte ich als Kind das, was vor meinem inneren Auge entstand, nicht verbalisieren. Ich erzählte niemanden davon.

Heute wissen wir, dass in gewissem Sinne „Gedächtnis“ ererbt werden kann. Und nicht nur von Holocaust-Opfern ist inzwischen bekannt, dass es  generationsübergreifende Traumata gibt. Die Epigenetik beschäftigt sich mit diesen Phänomen. Ich selbst kenne Personen, deren Vorfahren oder auch sie selbst als ethnische Deutsche in ihrer Kindheit dem Terror-Regime Stalins ausgesetzt waren. Die deutschstämmige Bevölkerung, der kein Vertrauen entgegengebracht und die verdächtigt wurde, möglicherweise die deutschen Besatzungstruppen zu unterstützen, wurde deportiert: nach Sibirien, nach Kasachstan. Die Schicksale waren oft grausam. Die Nachfahren leiden unter generationsübergreifenden Traumata, die sich in „Depressionen, Albträumen, Gefühlen übernommener Trauer, Hilflosigkeit, Schuld oder Scham“ (nach medica mondiale) äußern können.

Eines Tages erzählte mir meine Mutter noch ein grauenhaftes  Detail aus Kenty, dem Dorf, das sie zusammen mit ihren Eltern am 21. Januar 1945 verlassen hatte. Sie hatte einen der Todesmärsche aus dem KZ Auschwitz gesehen. Die Bevölkerung versuchte, den Häftlingen etwas zum Essen zu geben. Daraufhin wurde sie von der SS beschossen.  – Und seitdem meine Mutter mir das erzählt hat, entsteht vor meinem inneren Auge das Bild einer verschneiten Landschaft, links zieht sich ein Wald dahin, auf den Betrachter läuft eine Straße oder eine freie Fläche zu, die von  dunklen Schatten bedeckt ist.  Sind es viele, es ist nicht zu sagen? Die dunklen Schatten sind die erschossenen Häftlinge, die nicht weiter konnten.

Da ich zu der Zeit, als mir meine Mutter das erzählt hatte, schon viel über den Zweiten Weltkrieg, Oberschlesien, das KZ Auschwitz und auch über die Todesmärsche wusste, frage ich mich, ob das Bild vor meinem inneren Auge tatsächlich ein ererbtes oder ein der Imagination entsprungenes ist.

Ich kann die Frage nicht entscheiden. Und: Lauern noch mehr Bilder in meinem Kopf? Ich weiß es nicht.

 

Titelfoto: Greta Garbo in „Anna Christie“; © Foto: Sammlung Josef Jünger

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