Das Pandemiejahr 2020 treibt Intermedialität sehr weit und sehr schnell voran. Wenn man das Kino und das akademische Umfeld mit Symposien, Tagungen und Festivals betrachtet, wird in diesen Tagen mit zahlreichen neuen Austauschmodalitäten experimentiert. Obwohl dies wegen des globalen Notfallstatus allgemein gefordert wurde, muss gesagt werden, dass es auch eine diffuse, meist nicht erzählte Neugier für diese Tendenz zum Experimentieren gibt. Wenn man nur für eine Sekunde die Gründe für diese plötzliche Explosion des Digitalen vergisst, ist es in der Tat faszinierend, neue Formen der sozialen Verbindung und im Allgemeinen neues Potenzial zu entdecken. Aber wohin führt dieses Potenzial?
Hier möchte ich einen besonderen Fall betrachten, und zwar den von Filmfestivals und insbesondere von Stummfilmfestivals. Wer diese Zeilen liest, weiß vielleicht bereits, dass die sogenannte stumme Ära der Kinogeschichte nie wirklich stumm war. Während der Dreharbeiten zu den sogenannten „Stummfilmen“ sprachen Schauspieler und Schauspielerinnen tatsächlich, was man normalerweise an den Bewegungen der Lippen sehen kann; die Schauspieler sprachen zwar und es entstand ein Ton, der aber nicht aufgenommen wurde. Darüber hinaus waren Kinos keine stummen Orte: Töne, Stimmen, Geräusche und Musik waren immer da, ebenfalls und besonders während der Projektionen.
Ende 1929, als Ton eine vielversprechende, aber noch eine work-in-progress-Technologie war, schrieb der französische Drehbuchautor und Leiter von „Pour Vous“ Alexandre Arnoux einen Artikel mit dem Titel: „Le cinéma muet n’a pas dit son dernier mot“ (Der Stummfilm hat sein letztes Wort nicht gesprochen). Und hier sind wir, haben noch viel über diese ersten Jahrzehnte der Geschichte der siebten Kunst zu sagen und feiern die Stummfilm-Ära mit mehreren jährlichen Veranstaltungen weltweit. Die Giornate del Cinema Muto di Pordenone, die jährlich in Norditalien stattfinden und jetzt bei ihrer 39. Edition angelangt sind, nehmen unter diesen Veranstaltungen eine herausragende Rolle ein.
Im Interesse der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit, wurden die Giornate del Cinema Muto 2020 als begrenzt zugängliche Online-Edition organisiert, vergleichbar vielen anderen kulturellen Veranstaltungen in dieser Zeit. Ich persönlich habe mir alle Ereignisse auf meinem Laptop angeschaut: Die Vorführungen am Abend, sowie die Masterclasses und die Buchpräsentationen nachmittags vom Samstag 3. bis Samstag 10. Oktober. Nur als kleine Anmerkung: Ein besonderes Merkmal dieses Festivals ist, dass es nicht mehrere Vorführungen gleichzeitig gibt, wodurch die Seltsamkeit, dass die Zuschauer jeweils ein eigenes Festival erfahren, vermieden wird (siehe „Ein Tag im Leben eines Festivalbesuchers“ von Felix-Schaulust hier auf Sinn und Cinema).
Im Folgenden werde ich das Programm nicht im Detail durchgehen, sondern über diese Erfahrung per se und über die Konzepte nachdenken, die sie definieren. Am Ende, wie der Direktor der Giornate Jay Weissberg während des Festivals oft betonte: „It is a new world for all of us” (Es ist eine neue Welt für uns alle).
Ich habe mich gefragt, welche Vor- und Nachteile digitale (Stumm-)filmfestivals haben. In dieser Hinsicht tauchen die Begriffe von „arrêt et répétition“ (Anhalten und Wiederholung), die von Bazin und Agamben ausführlich theoretisiert wurden, sofort in meinem Kopf auf: Wenn man ein Filmfestival online anschaut oder verfolgt, erhält der Zuschauer tatsächlich eine ganz besondere Möglichkeit, nämlich die Fähigkeit, das Screening-Erlebnis ganz oder teilweise anzuhalten, neu zu starten und möglicherweise sogar zu wiederholen – was den Fokus und das Engagement des Zuschauers für den Moment des Screenings stark beeinflusst. Wenn man (mehr oder weniger bewusst) weiß, dass eine bestimmte Erfahrung wiederholt werden kann, wird der Fokus automatisch geändert. Zu besonderen Ereignissen werden Festivals gerade durch ihre Einmaligkeit und ihre Einzigartigkeit gemacht. Aufnahmetechnologien könnten diese Idee natürlich beeinflusst haben, aber nicht in dem speziellen Fall, auf den ich mich beziehe: Dem von Stummfilmfestivals, zu denen normalerweise auch Live-Musik-Performances gehören. Und das kann man trotz aller Aufnahmen der Welt nicht wiederholen.
Infolgedessen möchte ich hier betonen, dass ich mich dazu entschieden habe, die Screenings der GCM keinesfalls zu wiederholen, obwohl sie nach dem ersten Stream 24 Stunden lang verfügbar waren. Ich muss ebenfalls zugeben, dass ich diese „potentielle Möglichkeit“ manchmal gerne genutzt hätte, insbesondere um einige Filmsequenzen oder Teile der interessanten Debatten, die den Filmen folgten, noch einmal anzusehen.
In dieser Hinsicht gibt es eine Aussage, die meine Aufmerksamkeit besonders auf sich zog: Der Pianist Serralde Ruiz, der die musikalische Begleitung für die allererste Vorführung mit dem Titel „Voglia di viaggiare“ spielte, wurde nach seiner Erfahrung gefragt. Er erklärte, dass die Neuheit ihn überrascht hätte und meinte auch, dass er sich über das Ergebnis seiner Aufführung nicht sicher sei, denn, ich zitiere, „I can’t hear them laughing!“ (Ich kann ihre Lacher nicht hören) – bezogen auf das Publikum.
Für ein Stummfilmfestival scheint die physische Präsenz der Zuschauer und Zuschauerinnen also nicht nur wichtig, sondern auch wesentlich zu sein. Durch Stummfilmfestivals – und Filmfestivals im Allgemeinen, würde ich sagen – offenbart das Kino seine soziale Essenz erneut: „Le cinéma comme invention sociale et pratique culturelle“ (das Kino als soziale Erfindung und kulturelle Praxis) (Rick Altman: Vingtième Siècle, 1995). In unserem digitalen Zeitalter ist es angesichts der aktuellen Explosion der digitalen Filmplattformen und insbesondere jetzt in dieser Zeit diffuser Lockdowns wichtig, darauf hinzuweisen und dies zu berücksichtigen.
Eine Münze hat aber immer zwei Seiten, und natürlich ist nicht alles negativ an dieser (hoffentlich vorübergehenden) digitalen Wende der Filmfestivals. Ich glaube, dass die wesentlichen Vorteile in einem Konzept zusammengefasst werden können: Zugänglichkeit. Ein Filmfestival findet normalerweise in einem begrenzten Zeitraum an einem bestimmten Ort statt. Trotz dieses im Allgemeinen konstanten Aspektes, kann man nicht immer sicher sein, teilnehmen zu können, und es kann viele Variablen geben, die die potenzielle Teilnahme für jeden Einzelnen beeinflussen. Die Pandemie, mit der die Welt konfrontiert ist, ist in diesem Sinne wahrscheinlich das Worst-Case-Szenario, da alle Zuschauer und Organisationen gleichzeitig betroffen sind. Dass die GCM online „stattfinden“ konnten, hat nicht nur die Kontinuität des Festivals gesichert (wenn auch in einer anderen Format); Als Nebeneffekt hat es auch eine breitere Zugänglichkeit als üblich ermöglicht, insbesondere im geografischen Sinne. Heutzutage spielt es keine Rolle, ob man in Pordenone, in Italien, überhaupt in Europa oder auf der anderen Seite des Planeten ist. Solange man über eine Internet-Verbindung und eine Akkreditierung verfügt, ist das Festival zugänglich.
Man könnte sich weiter auf die Exklusivität der Festivalerfahrungen konzentrieren, jedoch möchte ich jetzt meine Gedanken lieber mit einer persönlichen Bemerkung abschließen: Ich freue mich darauf, dass die Giornate del Cinema Muto erfolgreich in dieser limitierten Online-Edition stattfinden konnten, und ich glaube, dass es die klügste Wahl war. Aber trotzdem, wenn ich das Licht in meinem Zimmer ausschalte, die Lautsprecher aufstelle und mich vor meinen Laptop setze, fällt mir etwas auf. Es ist weder der kleine Bildschirm noch die aufgenommene Musik – obwohl die sehr wohl dafür in Frage kämen. Nein.
Was mir auffällt ist, paraphrasiert, dass auch ich das Lachen nicht hören kann.
Man kann einige Kommentare im Live-Chat lesen, aber im Grunde sitze ich alleine vor dem Bildschirm. Und die soziale Essenz des Filmerlebnisses fehlt unweigerlich.
Maria Adorno
Titelfoto: La Tempesta in un cranio, Regie: Campogalliani, Italien 1921
Live-Musik (Vertonung) und Live-Erlebnis (Feeling) sind meiner Meinung nach nicht dasselbe.
Abgesehen von der Größe des Bildschirms, der Größe einer Beamer-Projektion oder der Größe der Leinwand (z.B. Im Substage) zu der ich spiele, spiele ich jedes Mal Live-Musik. Das bedeutet, „handwerklich“ mache ich dasselbe ob ich zu Hause zum PC Probe/spiele, im Proberaum im Duo probe oder bei der Aufführung zur Leinwand musiziere.
Findet das Ganze aber dann bei der Aufführung statt, so ist das für mich eine völlig andere Situation. Sie erfordert hohe Konzentration, kein Part ist wiederholbar, alles kulminiert sich auf den jeweiligen Augenblick. Es entsteht ein Gesamtwerk zu dem auch ganz entscheidend das Publikum gehört. Jede für mich/uns hörbare Reaktion des Publikums ist quasi ein Feedback im jeweiligen Moment mit direkten Bezug zum Gesamtgeschehen, welches für mich als Musiker „Stimmigkeit“ anzeigt. D.h., jede Äußerung jedes Lachen des Publikums ist ein Indiz, dass ein Gesamtwerk wahrgenommen wird, und nicht eine Einzelleistung eines Musikers / eines Ensembles beurteilt wird. So wie im Wahrnehmen eines Konzerts das akustische Erleben und der visuelle Eindruck auf der Bühne zu einer Einheit verschmelzen, so geschieht es im Falle einer Stummfilmvertonung durch die Paarung Musikbegleitung und Visuelles Filmgeschehen. Der Zuschauer ist „drin“.
Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass eine Live-Situation (Stummfilm-Event) mit Publikum nicht mit einer viral zur Verfügung gestellten und live eingespielten Konserve verglichen werden kann. Eine gute Aufführung lebt von von dieser emotionalen Interaktivität, was sie von einer reinen Konsumhaltung abhebt.
Bhadra 24.10.2020