Enno Patalas und Frieda Grafe – Der Vorrang des Ästhetischen

Eine Spurensuche

In dem vielbeachteten Beitrag aus Anlass des 90. Geburtstages von Ulrich Gregor habe ich dargelegt, welche Prioritäten Ulrich Gregor bei der Interpretation wie bei der filmhistorischen Verortung von Filmen ansetzt.

Bekanntlich wurde und vermutlich wird immer noch gemunkelt, dass sich die Wege von Ulrich Gregor und Enno Patalas, die immerhin eine Filmgeschichte gemeinsam geschrieben haben, irgendwann aufgrund von divergierenden Ansichten getrennt hätten. Natürlich haben sich die beiden nie öffentlich gestritten.

Aber wie könnten die unterschiedlichen Ansichten in die Publikationen eingeflossen sein? In Bezug auf Ulrich Gregor habe ich in dem genannten  Beitrag eine aufschlussreiche Quelle gefunden und interpretiert.

Nun war ich sehr gespannt, ob ich auch hinsichtlich Enno Patalas einen Text finden könnte, der seine  Position deutlich erkennbar werden ließe.

Leider hat Enno Patalas keinen filmtheoretischen Text hinterlassen, der mein Unterfangen viel einfacher gemacht hätte.

So blieb mir nichts Anderes übrig, als mir den 1974 im Hanser Verlag erschienenen  Band „Im Off  Filmartikel“ von Frieda Grafe und Enno Patalas vorzunehmen. Ich habe zahlreiche der darin enthaltenen Texte gelesen, bevor ich „fündig“ wurde.

Bevor ich auf mein Fundstück zu sprechen komme, möchte ich auf einen Gedanken eingehen, der immer wieder bei Texten vorgebracht wird, die von zwei Personen geschrieben wurden: Man versucht herauszufinden, ob einzelne Texte jeweils einer Person zugordnet werden können. Dieser rein produktionsästhetisch orientierte Gedanke übersieht, dass die beiden Personen, von denen die Texte stammen, für die Rezeption genau das nicht für wichtig hielten; sondern festgelegt haben, dass sie gemeinsam als Autorin bzw. Autor in Erscheinung treten wollen. Ein anderes, natürlich viel berühmteres Beispiel für solche produktionsästhetischen Irrläufer sind die Arbeiten zu den „Xenien“ von Goethe und Schiller.

In einer der Ausgaben des Jahres 1968 (genauere Angaben finden sich nicht in dem erwähnten Band) erschien eine Kritik mit dem Titel „Die toten Augen“, die zugleich mehrere Filme von Alexander Kluge betraf, und darüber hinaus auch Filme von Theodor Kotulla, Strobel und Tichawsky.

Wir zitieren aus diesem Text:

„Was Film eigentlich ist, darüber gibt es mehr Vermutungen als Gewißheiten. Gewiß ist, daß er etwas mit Raum und Zeit zu tun hat, daß im Film die sinnliche Erfahrung von Raum und Zeit jeder Gedankentätigkeit vorausgeht und diese definiert. Gedanken, die der Film vermittelt, sind die Gedanken eines Menschen, der sich bewegt, der um sich eine Veränderung des Raumes wahrnimmt, der den Ablauf von Zeit spürt. Wie der Maler, laut Valéry, so bringt auch der Filmer zu seiner Arbeit „seinen Körper“ mit, und so wenig man „sich vorstellen kann, wie ein reiner Geist malen könnte“ (Merleau-Ponty), so wenig kann man sich vorstellen, daß er filmte, auch der Filmer „leiht der Welt seinen Körper“:

(S. 131f a.a.O.; Orthographie des Originals beibehalten; ein Druckfehler korrigiert; Hervorhebung von mir.)

Enno Patalas sagt hier deutlich, dass die sinnliche Erfahrung die kognitive Tätigkeit determiniert. Das nenne ich, wie im Titel angegeben, den Vorrang des Ästhetischen.

Mir erscheint es als notwendig und sinnvoll, etwas genauer darzustellen, was „ästhetische Erfahrung“ bedeutet.  Ästhetische Erfahrung fällt zwar je nach Kunstform verschieden aus, die wesentlichen Aspekte gelten jedoch  für alle Formen, ob es sich um Bildende Kunst, Literatur oder Film handelt.

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschäftigte sich der Konstanzer Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß in mehreren Publikationen mit der „Ästhetischen Erfahrung“. Wir zitieren aus der Einführung des Bandes „Ästhetische Erfahrung und Literarische Hermeneutik“.

„… die phänomenologische Unterscheidung von Verstehen und Erkennen, von primärer Erfahrung und dem Akt der Reflexion, mit dem sich das Bewußtsein auf die Bedeutung und auf die Konstitution seiner Erfahrung zurückwendet, kehrt bei der Rezeption von Texten und ästhetischen Gegenständen als Unterscheidung von Aufnehmen und Auslegen wieder. Ästhetische Erfahrung setzt nicht erst mit dem Erkennen und Auslegen der Bedeutung eines Werkes ein, geschweige denn mit dem Rekonstruieren der Intention seines Verfassers. Die primäre Erfahrung eines Kunstwerks vollzieht sich in der Einstellung auf seine ästhetische Wirkung, im genießenden Verstehen und verstehenden Genießen. Auslegung, die diese primäre ästhetische Erfahrung überspringt, ist die Anmaßung eines Philologen, der dem Irrtum huldigt, der Text sei nicht für Leser, sondern eigens dafür geschaffen, um von Philologen interpretiert zu werden.“

Vielleicht wird durch dieses Zitat aus der wissenschaftlichen Arbeit von Hans Robert Jauß, die zeitlich gesehen in keinem großen Abstand zu dem Text von Grafe/Patalas entstand, noch deutlicher, in welchem Kontext die kurzen Ausführungen von  Frieda Grafe und Enno Patalas zu verstehen sind.

PS: Falls sich noch weitere Belege für meine These zu Grafe/Patalas bei der weiteren kursorischen Lektüre finden, werde ich sie in diesen Text einarbeiten.

 

 

Titelfoto: „Der Bomberpilot“ von Werner Schroeter; ein Fotos aus diesem Film befindet sich auch auf der 1. Umschlagseite des Buches „Im Off Filmartikel“ von Frieda Grafe und Enne Patalas.

 

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