Ulrich Gregor zum 90. Geburtstag

Ulrich Gregor kann heute, am 18. September 2022, seinen neunzigsten Geburtstag feiern. Wir gratulieren!

Wir möchten diese Gelegenheit ergreifen, um einen kurzen Auszug aus einem Text von Ulrich Gregor – wieder – zu veröffentlichen. Wir haben den Text in dem Buch „Theorie des Kinos“ gefunden, das von Karsten Witte 1972 bei Suhrkamp herausgegeben wurde.

“ Ein weiteres Prinzip des „Arsenal“ ist dabei die Konfrontation von Altem und Neuem. Die „Freunde der Deutschen Kinemathek“ sind bei ihrer Gründung im Jahr 1963 von einer primären Verpflichtung gegenüber der Filmgeschichte ausgegangen, haben diese Verpflichtung aber nie in einem einseitig musealen Sinn verstanden. Vielmehr kam es ihnen darauf an, in die Filmgeschichte sozusagen aus heutiger Sicht neue Schneisen  zu legen, von heutigen Fragestellungen oder vom heutigen ästhetischen Empfinden her den Werken der Filmklassik (sowie den vergessenen und verkannten Werken der Vergangenheit) neue Aktualität zu verleihen. Das kann geschehen, indem man die klassischen Filme nach bestimmten Gesichtspunkten neu auswählt, aber auch indem man alte und neue Filme systematisch gegenüberstellt. Aus diesem Grunde wird im „Arsenal“ versucht, das Programm immer in mehreren parallelen Reihen zu organisieren, neben eine historische Retrospektive z. B. ein modernes Programm zu stellen, das nach eigenen Kriterien ausgesucht wurde, im Idealfall aber auch zu dem historischen Programm in einer Relation steht. So können sich immer wieder Querverbindungen ergeben; der Zuschauer kann für sich selbst Entdeckungen machen. Filmgeschichte kann rezipiert und überprüft werden anhand moderner Kriterien. Filme der Gegenwart können am Stand thematischer und formaler Entwicklung gemessen werden, die das Filmmedium in der Vergangenheit bereits erreichte. Filmgeschichte verstehen die „Freunde der Deutschen Kinemathek“ als ein Kontinuum, das bis in die Gegenwart reicht. Aber auch die Beschäftigung mit dem modernen Film, mit Film als Medium sozialer Kommunikation, muß, wenn sie nicht blinder Empirie verfallen will, mit dem Bewußtsein geschichtlicher Entwicklung des Filmmediums in ein Verhältnis gebracht werden.“

Wir haben diesen Textauszug gewählt, weil er uns durch seine Aktualität überrascht hat. Was Ulrich Gregor vor 50 Jahren über die Programmarbeit und die Maßstäbe des „Arsenal“ geschrieben hat, erscheint uns von seiner Aktualität nichts eingebüßt zu haben. Im Gegenteil, viele Einrichtungen, die heute eine nicht-gewerbliche Kinoarbeit betreiben, hinken unserer  Ansicht nach diesen Maßstäben hinterher und/oder gehen in eine Richtung, die eben „das einseitig Museale“ in den Vordergrund schiebt. Wir möchten dezidiert darauf hinweisen, dass Ulrich Gregor die Kategorie des „Zuschauers“, des Publikums, kennt und dieses im Blick hat. Es ist ihm also bewusst, dass das „Arsenal“ sein Programm nicht für sich selbst macht, sondern eben für das Publikum. Im gleichen Text findet sich ein weiterer Abschnitt, den wir ebenfalls hier wiedergeben möchten.

„Durch seine Arbeit möchte das „Arsenal“ beitragen zur Ausbreitung eines neuen Filmverständnisses, dessen Grundzüge bereits formuliert wurden, aber auch zur Formierung eines neuen Publikums, das Film nicht länger als Konsumprodukt zur Ausfüllung seiner Freizeit betrachtet, als ein Mittel der ästhetischen Verschönerung, Ablenkung oder Verschleierung, als Vehikel von „Unterhaltung“, sondern als ein Medium der Aufklärung, der Kritik und der Reflexion, der persönlichen Aussage, des Experiments und der Phantasie. Ein Spielplan, der von einem solchen Filmverständnis ausgeht, braucht keineswegs trocken und langweilig zu sein, er kann sich als originell, vielfältig, vergnüglich und überraschend präsentieren.“

Es fällt auf, dass die Kritik Gregors fast ausschließlich die Seite der Rezeption trifft; dem Publikum wird vorgeworfen, den Film als Konsumprodukt zu betrachten und nur zur Unterhaltung ins Kino gehen zu wollen. Besonders auffällig ist die Skepsis gegenüber dem Ästhetischen. Gregor greift sogar zu einer klassischen Form der Rhetorik, der Triade, so dass wir annehmen dürfen, dass ihm dieser Aspekt besonders wichtig ist. Nur bleibt sein Ausdruck merkwürdig ungenau: das Publikum soll den Film nicht länger als ein Mittel der „ästhetischen Verschönerung, Ablenkung oder Verschleierung“ begreifen – aber was oder wer soll denn ästhetisch verschönert, abgelenkt und verschleiert werden? Unserer Ansicht nach ist der Passus nur richtig zu verstehen, wenn man die Kritik Gregors nicht nur auf die Rezeption bezieht, sondern auch auf die Produktion. Dann ist damit Film gemeint, der die ästhetische Erfahrung der Rezipienten nicht außer acht lässt, sondern vielleicht sogar an erste Stelle setzt.  Die große Skepsis Gregors gegenüber der ästhetischen Wahrnehmung von Filmen (Kunstwerken) hat uns überrascht und kann hier nur konstatiert werden.

Wir sind der Auffassung, dass es sich bei der Rezeption eines Kunstwerks, und wir betrachten den Film als solches, immer um eine ästhetische Erfahrung handelt. Es ist eben kein kognitiver Vorgang, sondern eine sinnliche Wahrnehmung, um den deutschen Begriff zu gebrauchen. Gregor wünscht sich von seinem noch zu „formierenden“ Publikum, dass es den  Film als „Medium der Aufklärung, der Kritik und der Reflexion“ betrachtet, genau das sind aber alles Kategorien eines kognitiven Prozesses.

Ulrich Gregor ist sich bemerkenswerterweise zumindest bewusst, dass die Betonung des Kognitiven Auswirkungen auf das Programm des Kinos „Arsenal“ hat. Anders ist die Bemerkung, dass ein solches Programm nicht „trocken und langweilig“ sein muss, nicht zu verstehen. Wir möchten hinzufügen: solche Programme sind vielleicht nicht zwangsläufig trocken und langweilig, sie können es aber sein. Die Praxis vieler nicht-gewerblicher Kinos beweist dies. Damit sind wir in der Gegenwart angekommen.

Ein Nachtrag:

Wir haben diesen Text geschrieben, bevor wir den Film „Komm mit mir in das Cinema. Die Gregors“ sehen konnten. Wir waren neugierig, ob der Film unsere Thesen bestätigen würde oder ob sich vielleicht Anhaltspunkte fänden, die gegen unsere Thesen sprächen. Kurz gesagt: wir  haben uns bestätigt gefunden. Es gibt immer wieder Aussagen, die wir als Symptome betrachten für die Richtigkeit unserer Thesen. Im Film spricht besonders Ulrich Gregor immer wieder über „wichtige“ Filme. Kein einziges Mal ist die Rede von einem „schönen“ Film.

Nun erlauben wir uns, persönlich zu werden. Als „wichtigen“ Film betrachtet Ulrich Gregor auch den Film Tom, Tom, the Piper’s Son“ von Ken Jacobs aus dem Jahr 1969. Ken Jacobs zerlegt, zerschneidet, vergrößert usw. einen Film des Frühen Kinos bis wir nur noch schwarz-weiße Flecken, Streifen usw. sehen. Manche Kritiker schreiben, der Film sei ein zentrales Werk eines reflexiven Kinos über die Konditionen des Mediums. Auch Ulrich Gregor hält den Film für „wichtig“, weil er die eingefahrenen Sehgewohnheiten breche. Das sehe ich auch, die tradierten Sehgewohnheiten werden gründlich gestört. Aber was tritt dann an ihre Stelle? Außer  der Erkenntnis, dass der Film mit den Sehgewohnneiten bricht?  Wir jedenfall können nicht erkennen, welchen ästhetischen Reiz oder Erlebnis das Ergebnis bieten soll. Bei uns stellten sich seinerzeits nur Kopfschmerzen ein.

Wir möchten noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen, der uns während des Sehens des Films über die Gregors auffiel. Wiederum geht es um das Internationale Forum des Jungen Films. Es fällt  uns etwas schwer, eine gewisses Detail der Entwicklung des Internationalen Forums des Jungen Films zeitlich genau zu fixieren. Es erscheint uns aber als Gegenstück zu den cineastischen Kopfgeburten des Kinos der Avantgarde und des Experimentalfilms, die das „Forum“ doch recht deutlich dominierten – und bis heute dominieren. Wir meinen die Mitternachtsfilme, die das Forum in den achtziger Jahren präsentierte, darunter oft Genre-Filme aus Hongkong. Wie kam es dazu? Wir werden dem Phänomen noch etwas weiter nachforschen. Die Filme: Sehr vergnüglich, ein großer sinnlicher Genuß, wir wollen nur ein einziges Beispiel herausgreifen: „Peking Opera Blues“ des kommerziell sehr erfolgreichen Tsui Hark. Und während es tagsüber oft kein Problem war, im Delphi, einem der größten Kinos Berlins, einen Platz zu bekommen, gab es zu später Stunde lange Schlangen vor dem Kino. …  Cineastische Meisterwerke in dem Sinne von „wichtig“ waren diese Filme sicher nicht. Eher waren sie schon zu den B-Filmen zu rechnen. Sah man einen, hatte man schon fast alle gesehen. Oder bahnte sich hier eine Entwicklung an, die in der Abwendung von jenen Ansprüchen zu sehen war, wie sie die Gregors formuliert hatten, hin zu B- und Trashfilmen, was z. B. auch in der Namensgebung von nicht-gewerblichen Kinos wie dem „B-Movie“ in Hamburg zum Ausdruck kam – gegründet 1987?

 

S. Swashenko als Arsenal-Arbeiter Timosch, in: „Arsenal“ von Olexander Dovshenko (1929)

Die Schlussszene des Films wird in der Regel als Metapher interpretiert: Der Arbeiter stirbt nicht unter den Kugeln der Angreifer – die Revolution ist unsterblich …

 

Wir haben Ulrich Gregor noch nicht um Genehmigung für den Abdruck dieses Textes bitten können – die Aktualität hat uns dazu bewegt, nicht zu warten – schließlich war uns das genaue Datum seines Geburtstages nicht bekannt.

Foto oben: Erika und Ulrich Gregor bei der Eröffnung der Agnès-Varda-Ausstellung im Silent Green am 9. Juni 2022, © Foto: Josef Jünger

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