Film: „He who gets slapped“ beim Festival in La Rochelle 2019

Einer hermeneutischen Formel folgend soll ein Text/Kunstwerk/Film eine Antwort auf eine Frage geben, die zu rekonstruieren die Aufgabe des Interpreten ist. Der englische Originaltitel geht direkt ein auf einen der verstörenden Momente des Films, während der französische Titel „Larmes de Clown“ meiner Ansicht nach davon ablenkt. Der französische Titel weist auf die Folgen einer Tat und lenkt damit ab von der Tat und deren Ursachen. Dieses Ablenken ist ein Merkmal des Melodrams, das sich lt. Thomas Elsaesser dadurch auszeichnet, dass es das eigentliche Problem des Films nicht benennt.

Der englische Titel leitet sofort zur Frage, wer sich denn (gerne  und freiwillig) ohrfeigen lässt? Oder warum und wieso denn jemand geohrfeigt wird? Welche Gründe kann es dafür geben?

Es hilft hier wohl nur eine psychologisierende Interpretation weiter. Rekapitulieren wir zuerst, soweit notwendig, den Inhalt des in den USA entstandenen Films von Victor Sjöström aus dem Jahre 1924.

Ein Wissenschaftler ist von einem sog. „Freund“, der ihn seine Forschungen finanziert hat, hintergangen worden. In aller Öffentlichkeit hat der reiche „Freund“ die Ergebnisse für sich beansprucht, den Wissenschaftler als verrückt hingestellt und ihn vor versammelter Akademie geohrfeigt. Das hat bei dem Wissenschaftler (Lon Chaney – der einzig richtige Schauspieler für diese Rolle) ein Trauma ausgelöst. Der sog. „Freund“ hat nicht nur seine Karriere zerstört, sondern ihm auch die Frau ausgespannt.

Der Wissenschaftler wird Clown, er wird ein anderer Mensch, genau besehen wechselt er die Identität. Er wird Clown, über den sich alle lustig machen dürfen und der täglich geohrfeigt wird. Wie lässt sich das erklären?

Der Wissenschaftler, das erfahren wir später, wird von einem abgrundtiefen Hass und einem unerbittlichen Willen zur Rache angetrieben. Damit sein Hass und sein Drang zur Rache nicht nachlassen, lässt er sich jeden Tag aufs Neue zum Opfer machen. Genau dieses Verhaltensmuster verstört den heutigen Zuschauer erheblich. Warum?

Es ist nichts Anderes erforderlich als ein kleiner Exkurs zum Verhältnis von Täter und Opfer und den Folgen eines Verbrechens – für beide, für Täter wie für Opfer. Der Täter hat seine Tat willentlich begangen, davon gehen wir aus, und es lässt sich sagen, dass er in aller Regel nicht unter seiner Tat leidet, ganz im Gegenteil. Viele Täter wiederholen ihre Taten immer wieder. Das sind dann Serientäter, Serienmörder, Serienvergewaltiger.

Wie verhält sich es für das Opfer? Das Opfer erleidet die Tat und findet sich in einem Zustand wieder, aus dem manche Opfer schlecht oder überhaupt nicht herausfinden; dann spricht man von posttraumatischen Störungen. Einmal Opfer geworden, bleibt man prinzipiell in diesem Zustand, auch wenn man sich von der unmittelbaren Tat erholt wie von einer Verletzung, die jedoch vielleicht eine Narbe hinterlassen hat, um jetzt eine Metapher zu benutzen.

Im Film „He who gets slapped“ ist es jedoch das Opfer, das eine Tat, die Ohrfeige ist sozusagen eine Metapher der Tat, täglich an sich wiederholen lässt. Das erscheint uns im Lichte der obigen Darstellung absurd, und das ist es auch, was an diesem Film verstört.

Zurück zum Film: Der Tag der Rache kommt, also der sog. „Freund“ des um seine Existenz und um seinen Verdienst gebrachten Wissenschaftlers und einer der Helfershelfer des „Freundes“ aus der Akademie den Zirkus besuchen, in dem der Clown auftritt.

Wie der Clown dann diese Rache in die Tat umsetzt, ist ein weiterer verstörender Höhepunkt des Films. Einen Menschen kann der Clown nicht als unwissendes, nichts-ahnendes Rachewerkzeug einsetzen. Nein, der Clown setzt ein Tier als Werkzeug ein, ein Tier, das instinktiv tötet: er lässt einen Löwen auf seinen Feind los. Die Szene wirkt heute z. T. unfreiwillig komisch, so dass im La Rochelle einige im Publikum lachten.

Im Werk von Sjöström steht der Film zwar praktisch als Solitär, aber Geschichten von Schuld und auch von Rache sind geradezu das Markenzeichen von Sjöström. Schuld, tragische Verstrickungen, also Situationen, in denen eine handelnde Figur zwangsläufig schuldig wird, aber auch durchaus selbst und absichtlich herbeigeführte Schuld finden sich praktisch in fast jedem der Filme Sjöströms.

Das menschliche Leben erweist sich in Sjöströms Filmen als von wenig Glück, aber von viel Leid gekennzeichnetes Dasein. Ein Ende scheint dieses Leid nur im Tod zu finden, der somit eine Erlösung von der irdischen Qual darstellt, darin eingeschlossen die Verheißung auf ein besseres Leben nach dem Tod. Diese tiefreligiöse Grundhaltung charakterisiert die Filme Sjöströms. Wer sich aber während seines irdischen Lebens besonders heftig versündigt hat, muss ein Jahr lang als „Fuhrmann des Todes“ die Verstorbenen abholen, um sie in die Unterwelt zu geleiten. Wie unendlich weit ist doch diese sinnenfeindliche Haltung entfernt von der sinnenfrohen Haltung der katholischen Süditaliener, die im Alter entweder bereuen müssen, weil sie gesündigt haben, oder bereuen müssen, nicht gesündigt zu haben.

Es drängt sich schließlich hinsichtlich Sjöströms religiöser Weltanschauung eine Frage auf, die über diesen Film hinausgeht: welche Funktion erhält die Kunst, der Film, ferner die sinnliche Erfahrung, die mit der Rezeption künstlerischer Werke verbunden ist, das Gefallen am Schönen, im Rahmen der religiösen Weltanschauung Sjöströms? Welcher Sitz im Leben kommt Kunst und Film zu? Es kann Sjöström wohl nicht darum gehen, durch den Genuss des künstlerischen Werkes, das Gefallen an ihm, den Rezipienten das zu ermöglichen, was ihnen im alltäglichen Leben nicht vergönnt ist. Die Funktion der Kunst muss anders beschrieben werden.

Soll die Kunst vielleicht ein Spiegel sein, mit dessen Hilfe dem Menschen sein Leid vorgehalten wird? Unter Ausblendung möglichst allzu großen Gefallens am Schönen? Eine Überprüfung dieser Hypothese müsste direkt Bezug nehmen auf eine detaillierte Betrachtung einzelner Szenen*. Das ist hier nicht zu leisten. Es scheint mir jedoch der richtige Weg zu sein. Dann kommt der Kunst eine religiöse Funktion zu: Wenn sie besonders grausame Schicksale zeigt, wie die des zum Clown gewordenen Wissenschaftlers, der dann letztlich zum Verbrecher wird, um seine Rache zu vollziehen, will bzw. soll die Kunst die Menschen ermahnen und auffordern, den göttlichen Geboten folgend zu leben und nicht zu sündigen. Der Film, die Kunst, zeigt Menschen, die sündigen und die Folgen dieser Sünden. Der Künstler wird in gewisser Weise, folgen wir der inneren Logik, zum Mahner an der Stelle Gottes. Das weist nun weitergehend hin auf die besondere Verantwortung des Künstlers in der Gesellschaft.
* Zu untersuchen wären insbesondere Spiegelszenen in den Werken Sjöströms. Oder ist das zu einfach gedacht? Ich werde bei Gelegenheit darauf zurückkommen.

2 Comments

  1. Wie Du weißt, habe ich mich ja lange mit dem Verhältnis von Kunst und Religion auseinander gesetzt, bei der Kunst freilich nicht mit Film sondern mit Malerei und Plastik. Zumindest in dieser Sparte geht es meiner Ansicht nach darum, etwas darzustellen oder spürbar zu machen, was über Worte hinausgeht, im Sinne von Wittgenstein: „Es gibt unaussprechliches, es ist das Mystische, es zeigt sich. Über was man nicht sprechen kann, soll man schweigen“. Diesem „Mystischen“ kann man sich mit Worten nur annähern. Das gilt auch für das Mystische in einer Religion. Inwieweit das auch für Filme zutrifft kann ich nicht sagen. Feststeht für mich, dass Kunst, gleich welcher Sparte, keine moralische Instanz sein kann. Sie kann deshalb nicht ihre Betrachter zu etwas ermahnen.

    Herzliche Grüße
    Elmar

  2. Gerhard says:

    Der Kommentar von Elmar, offenbar ein Freund von Felix Schaulust, befasst sich – auf den Punkt gebracht – nur am Rande und dann auch inadäquat mit dem Beitrag von Felix Schaulust. Aus einer rein produktionsästhetischen Sicht formuliert Elmar seine vom Mystizismus geprägte Auffassung der Kunst, genau genommen, seiner eigenen künstlerischen Werke. Er will dem Unsagbaren auf die Spur kommen und es in seinen Werken zum Ausdruck bringen.
    Ich will hier nicht das Paradoxon diskutieren, dass das Unsagbare eben genau dies ist: unsagbar, und deswegen auch unzugänglich bleiben muss.
    Und selbstverständlich bleibt es Elmar unbenommen, dem Unsagbaren auf die Spur kommen zu wollen – aber was hat es mit dem cineastischen Werk Sjöströms zu tun? Man ahnt es: genau genommen nämlich so gut wie nichts. Ob Elmars Auffassung der – seiner – Kunst in irgendeiner Weise auch für Sjöström gelten könne, wird von ihm nicht einmal ansatzweise diskutiert.
    Der von Felix Schaulust aufgestellten These, Sjöströms Werke wollten dem Betrachter einen Spiegel vorhalten, begegnet Elmar mit dem Einwand, Kunst könne keine moralische Anstalt sein. Das ist ohne jeden historischen Bezug formuliert, und die Frage, ob die apodiktische These auch in historischer Sicht für das vor ca. einhundert Jahren entstandene Werk Sjöströms gelten könnte, wird von Elmar nicht einmal gestellt. Vermutlich kommt sie ihm wegen seiner ahistorischen Sichtweise auch gar nicht in den Sinn.
    Mit der Argumentation von Felix Schaulust, die ihn zu der genannten These geführt hat, setzt sich Elmar nicht auseinander. Deswegen hier nochmals kurz der Gedankengang von Felix: er argumentiert, dass von dem religiösen Standpunkt Sjöströms aus nicht angenommen werden kann, dass ausgerechnet die Kunst und die ästhetische Erfahrung der Kunst dem menschlichen Betrachter jenes sinnliche Erlebnis bringen sollte, das Sjöström dem menschlichen Dasein nicht zubilligt. Die Kunst muss also eine andersartige Funktion erfüllen.
    Wie hinsichtlich seines eigenen Werkes, das er nur aus produktionsästhetischer Sicht reflektiert und dessen Sitz im Leben des Betrachters Elmar nicht diskutiert oder überhaupt nicht interessiert, kann er die gleiche Fragestellung auch nicht in Bezug auf Sjöströms Filme stellen.
    Zur Erhellung der von Felix Schaulust aufgestellten Hypothese der Wirkungsabsichten von Sjöströms Filmen trägt der Kommentar von Elmar leider nicht bei.
    Gerhard Konitzer, Oktober 2020

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