Udine Far East Film Festival 2021: Ein cineastischer Blick auf Myanmar, Malaysia, Hong-Kong und Shaanxi, China

In den letzten Monaten habe ich angefangen, meinen Laptop, der ständig auf dem Schreibtisch in meiner Wohnung in Deutschland steht, als eine Art zeitloses und raumloses Shuttle zu betrachten: Wenn ich vor ihm sitze, kann ich von einer Sekunde zur anderen an einer akademischen Konferenz in einer Stadt weit weg von hier teilnehmen, ein Treffen mit Freunden in virtuellen Gefilden arrangieren oder gar Filmfestivals online besuchen, wie ich hier auf „Sinn und Cinema“ schon von den Giornate di Pordenone 2020 berichtet habe.

Heute bringt mich mein Laptop-Teleporter zum FEFF 2021 – Udine Far East Film Festival 2021. Eigentlich hat das Festival schon vor ein paar Tagen begonnen, aber ich habe mich aus mehreren Gründen entschieden, einfach das „Web Carnet“ zu kaufen: Diese Woche habe ich viel zu tun, daher reicht die Zeit nicht aus, um mehr als einen Film pro Tag wirklich zu genießen, und ich habe auch gesehen, dass es innerhalb des FEFF eine beträchtliche Anzahl von „Live-Gesprächen“ gibt, also plane ich, auch bei den meisten zuzuhören. Anders als im letzten Jahr überträgt das FEFF nun Filme auch nach außerhalb von Italien! Wenn man sich das Program anschaut, sieht man in der Tat Tags wie „Italy only“, „Europe only“, „Worldwide“ – gelegentlich mit recht seltsamen Ausnahmen. Zu guter Letzt schätze ich es sehr, irgendwie vom Ausland aus auf das Festival zugreifen zu können, aber ich muss sagen, dass ich nicht wirklich gerne mehrere Filme pro Tag auf dem kleinen Bildschirm meines Laptops anschaue… Also, hier sind wir mit einem Web- Carnet für 4 Filme. Aber wie wählt man 4 Filme aus den über 64 im Programm aus?

Der Katalog und die Website geben hier eine Hilfestellung, denn man kann Filme entweder pro Tag, pro Sektion, pro Land oder nach Genre aussuchen. Leider kann man die Endung (Italien/Europa/Welt) nicht filtern, daher muss dies bei der Auswahl der Filme ständig berücksichtigt werden. Also lösche ich zuerst alle Filme „Italy only“, was zu meiner großen Enttäuschung mit zumindest allen südkoreanischen und den meisten japanischen zusammenzufallen scheint… Dann werde ich nach meinem rein persönlichen Geschmack keine Genres berücksichtigen wie „Horror“, „Komödie“, „Musical“ und „Dokumentarfilm“, wobei bewusst auf „Drama“, „Thriller“ und „Noir“ übergegangen wird. Vor dem Löschen eines Films lese ich natürlich auch die Inhaltsangabe und schaue nach, wer z. B. Regie führte und welche Stars mitspielten. Diese erste Auswahl lässt weniger als der Hälfte der Filme übrig – noch lange nicht aber die 4 Titel, die ich wählen muss. Die nächsten Auswahlkriterien sind „Produktionsland“ und „- jahr“, denn ich möchte vorrangig Filme von 2020-2021 sehen. Schließlich ein Blick auf Inhaltsangabe bzw. die Handlung: In dieser Beziehung hilft das FEFF sehr be der Auswahli, denn zu jedem Film werden schöne Mikrobeschreibungen bereitgestellt. Nach all diesen Kriterien sind hier die Gewinner meiner Auswahl:

  • “Geld hat vier Beine“ OT: Money Has Four Legs, von SUN Maung, cinephile dramödie, Myanmar 2020
  • “Hail, Driver!”, RAHMAN Muzzamer, einsame Seelen in Kuala Lumpur, Malaysia 2021
  • “Handgerollte Zigarette“ OT: Hand Rolled Cigarette”, CHAN Kin-Long, stylische Verbrechen, Hong-Kong 2020
  • “Wie Vater und Sohn“ OT: Like Father and Son, BAI Zhiqiang, tränenreiches Roadmovie, China 2020

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28 June 2021 – Annäherung an Myanmar mit Wai Bhone in “Geld hat vier Beine“ (OT: Money Has Four Legs), (Sun, 2020)

Mein Tag beginnt mit ein paar sehr interessanten Gesprächen. Da das erste von Myanmar handelt, entscheide ich mich, mit diesem zwischen den vier Filmen zu beginnen, die ich ausgewählt habe. Mir gefällt die Idee, einem Land, einer Realität und einem Thema, mit dem ich absolut nicht vertraut bin, Raum zu geben. Tatsächlich ist die aktuelle gesellschaftspolitische Situation in Myanmar einer der Schwerpunkte dieses FEFF 2021. Wie auch der Europäische Botschafter in Myanmar im Interview betonte, wird das Thema vom sogenannten Westen sehr vernachlässigt, der laut der Journalistin D’Emilia, definitiv noch viel mehr tun könnte, um die gegenwärtige verheerende Situation in Myanmar anzuprangern. In diesem Sinne schätze ich das Engagement des FEFF sehr.

Der Film bringt sein Anliegen von Anfang an direkt auf den Punkt und konzentriert sich auf die Filmzensur. Im Grunde arbeitet unser Protagonist an einem Film, der komplett verändert und an die Wünsche des Produzenten (also der Regierung) angepasst werden muss. Der Film spiegelt deutlich die persönliche Erfahrung des Regisseurs Maung Sun wider, der dies auch im erwähnten Interview bestätigte. So verschränkt der Film nicht nur zwei, sondern drei Geschichten auf unterschiedlichen Erzählebenen: die des fiktiven Protagonisten des Films Wai Bhone, so sein Name, eines jungen Filmregisseurs, der versucht, den Weg seines verehrten Vaters, eines renommierten burmesischen Filmregisseurs, zu übertreffen. Dann ist der Film, bei dem Wai Bhone Regie führt, ein Remake eines berühmten burmesischen Gangsterfilms aus dem Jahr 1940, der bereits Gegenstand vieler anderer erfolgreicher Remakes war; und die dritte Ebene handelt vom Regisseur des Films selbst, der als Person eindeutig als Inspiration für die Handlung diente, jedoch ohne dass der Film als autobiografisch anzusehen ist .

Die konkrete Verbindung zwischen fiktionaler und realer Geschichte scheint sich bereits durch die eingeschränkte Zugänglichkeit des FEFF zu bestätigen: Der Film ist weltweit verfügbar „außer im UK, in Frankreich, in der Schweiz, in Myanmar, in den USA, in Australien“. Wenn man bedenkt, dass der Film seine Premiere beim FEFF hatte, ist es schon auffällig, dass ihn niemand in seinem Herkunftsland Myanmar sehen kann (und natürlich wäre es interessant zu wissen, warum ) und die Gründe für kennen, warum er in den anderen Ländern nicht gesehen werden kann. Hat einfach keinen Verleihe gefunden, der das Risiko einging, ihn zu zeigen?

Da ich mit Myanmar definitiv nicht vertraut bin (war?), insbesondere mit seiner Kultur, übte der Film einen extrem starken Einfluss auf mich aus, so dass ich nach Abschluss des Films Lust hatte, einige Details näher zu untersuchen. Warum zum Beispiel haben manche Leute (Frauen?) ihren Körper mit einer gelben Farbe bemalt? Was hat Wai Bhone mit so viel Sorgfalt gebacken? Sind die Ereignisse, die wir auf den Straßen sehen, ein Fest, ein Ritual, oder eine Party? Und was ist mit den langen Kleidern, die Männer tragen? Kurz gesagt, viele Elemente des Films erscheinen mir „fremd“ und unbekannt, was mich glauben lässt, dass die Umgebung des Films wirklich authentisch ist und dass dies vielleicht mit Absicht geschah. Natürlich findet man solche Elemente in jedem Film, aber hier hat man wirklich den Eindruck, dass hinter ihrer Darstellung im gesamten Film eine Absicht steckt. Die wichtigste Konsequenz daraus ist, dass „Geld hat vier Beine“ dazu führt, dass man sich vom häuslichen Laptop aus mit dem Protagonisten und seiner Umgebung identifiziert. Beim Anschauen erfahren wir nach und nach, dass der junge Filmemacher, seine Frau und seine Tochter eine wohlhabende, kultivierte Familie sind: Sie leben in einer schicken Straße, in der alle Filmproduzenten ansässig sind; sie können sich Fernsehen, Strom und Wasser leisten. Auch das Haus ist voller Bücher, wir sehen speziell „1984“: und das Kind sieht sich den Cartoon von „Animal Farm“ an. Und dennoch ist ihr Leben wirtschaftlich sehr instabil, so dass sie daran denken müssen, ihr Haus zu verlassen und eine Bank auszurauben (wahrscheinlich der gewaltloseste Banküberfall der Kinogeschichte).

Wenn ich mir einen Film anschaue, der (in vielerlei Hinsicht) so weit von mir entfernt ist, suche ich spontan nach kulturellen Besonderheiten und konzentriere mich eher auf diese als auf vertraute Tropen und Themen, was meine filmischen Erfahrungen stark beeinflusst. Zum Beispiel war mir die harte Realität, der sich der junge Regisseur stellen musste, nicht so fremd. Damit meine ich, dass es dem Regisseur möglicherweise nicht gelungen ist, die Besonderheiten der Realität Myanmars in diesem Sinne darzustellen – oder vielleicht haben Zensur und Autorität in verschiedenen Teilen der Welt einfach ähnliche Züge. Auf der anderen Seite gelingt es Regisseur Sun, die Besonderheiten Myanmars in Bezug auf Traditionen, Alltag, menschliche Beziehungen, moralische Werte und nicht zuletzt in Bezug auf Landschaft und urbanes Szenario darzustellen – auch wenn dies wahrscheinlich nicht das Hauptziel vom Film war.

Szene aus „Money Has Four Legs“ (Sun, 2020)

29. Juni 2021 – Kuala Lumpur, Malaysia, erkunden bei der Fahrt mit Aman in “Hail, Driver!” erkunden (Rahman, 2020)

Die Frage, die ich gestern offen gelassen habe, hat mich dazu gebracht, den Film für heute auszuwählen, einen Film, der sich auf ein ganz anderes gesellschaftliches Umfeld zu konzentrieren scheint. Das erste, was ich an „Hail, Driver!“ erwähnen möchte, ist, dass er schwarzweiß ist. Ich weiß, dass viele argumentieren würden, dass zeitgenössisches Schwarzweiß jeden Film schön macht und dass viele Künstler ihn aus technischen Gründen aussparen. Das mag manchmal stimmen, aber bei dieser Arbeit, dem ersten Film von Regisseur Rahman, ist dies sicher nicht der Fall. Die Ästhetik der meisten Szenen ist wunderbar fesselnd, weil sie gedacht, gebaut und gerahmt sind. Die Hochhäuser, die mehrstöckigen Brücken und die für die Metropolenlandschaft von Kuala Lumpur typischen Bienenstockhäuser werden durch den optischen Kontrast besonders hervorgehoben. Auch begründet der Regisseur seine Wahl auf ganz eigentümliche Weise: Aman, der Protagonist des Films, sei farbenblind und sehe die Welt in Schwarzweiß, sagt er. Realistisch oder nicht, diese Wahl macht die Fotografie zu einem der stärksten Aspekte dieser Arbeit. Die erste Szene mag als Beispiel für viele weitere dienen, die folgen: Tatsächlich erblickt der Zuschauer sein Umfeld zu Beginn des Films aus einer ganz eigentümlichen Perspektive, denn innerhalb weniger Sekunden verstehen wir, dass… wir in einem Grab sind. Der erste Blickwinkel, der dem Publikum geboten wird, ist der des Bodens eines Grabmals auf einem Friedhof. Auch wenn das etwas makaber klingen mag, der visuelle und erzählerische Touch des Regisseurs ist von Anfang an stark: Es gibt keine Dialoge, die Szene ist kurz, und danach verlassen wir sofort den Friedhof. Und dennoch, was wir in dieser elegant gebauten Szene intensiv wahrnehmen, ist kein makabres Gefühl, sondern eher eine erstickende, klaustrophobische Traurigkeit.

Dieses Gefühl wird den ganzen Film über bleiben. Aber Amans Traurigkeit wird nicht die einzige sein. Aman, ein malysischer junger Mann, der gerade seinen Vater verloren hat, verliert wegen eines herrischen Vermieters auch sein Haus. Vor kurzem hat er, wie wir wissen, auch seinen Job als Schriftsteller verloren, weil, wie er sagt, „die Leute keine Zeitschriften mehr lesen“. Kuala Lumpur ist eine hochmodernisierte städtische Umgebung, bestimmt von Technologie und Verkehr. Die einzige Hoffnung für Aman in dieser Situation ist der neue (illegale) Job, den er bekommt: E-Hailing-Fahrer für die Taxi-App „Toompang“. Durch diesen Job lernt er Bella kennen, eine chinesische Studentin mit Hauptfach Internationales Management, die ihn als eine Art persönlichen Fahrer anstellt, um schneller von einem Hotel zum anderen zu gelangen: Wenn Aman fragt, was sie beruflich macht, sagt sie einfach „Ich glaube, du weißt, was ich tue“.

Die beiden einsamen Protagonisten tun sich sofort zusammen und Aman zieht schließlich zu ihr in die Wohnung. Es gibt kaum Hinweise auf eine romantische Beziehung, obwohl man spürt, dass sich die beiden immer näher kommen und sogar ihre unterschiedliche Herkunft vergessen. Tatsächlich ist die der nationalen oder sogar der regionalen Herkunft ein durchaus relevantes Thema, denn wir verstehen, dass Malaysier und Chinesen oft niht gut miteinander auskommen. Wie in vielen anderen berühmten Taxifilmen wie „Taxi Driver“ (1976, Scorsese) oder „Taxi Teheran“ (Panahi, 2015) wird das Amans Auto zum Filter zwischen Hauptfigur, Stadtraum und Publikum. Wir lernen viele verschiedene Menschen kennen, von Touristen über Geschäftsleute bis hin zu Migranten aus Indonesien, die ein besseres Leben in Malaysia suchen. Die meisten von ihnen sprechen andere Sprachen. Sogar Aman und Bella interagieren auf eine merkwürdige Weise: Er spricht auf Burmesisch, und sie antwortet die meiste Zeit auf Englisch. Außerdem kommt Bella nicht aus der Provinz Kuala Lumpur und sie betont sehr oft, dass sie sich dort als Ausländerin fühlen würde und wie gerne sie ein Zuhause finden möchte.

„Hallo, Fahrer!“ behandelt seine dramatischen Themen und verzweifelten Geschichten mit einem sehr feinen Touch. Er gräbt sich nicht zu sehr in sie ein, bleibt aber nie oberflächlich. Vor allem aber hinterlässt er beim Publikum eine optimistische Hoffnung, denn selbst ein entfremdendes urbanes Umfeld kann sich irgendwann als unser „Zuhause“ erweisen. Aber zuerst muss man gute menschliche Beziehungen finden, unabhängig von der Herkunft der beteiligten Personen.

Szene aus “Hail, Driver!” (Rahman, 2020)

1. Juli 2021 – Versteckspiel mit Kwan und Mani in “Handgerollte Zigarette” (OT: Hand Rolled Cigarette) (Hongkong, 2020

Weiter in Richtung interkultureller Interaktionen bietet auch „Hand Rolled Cigarette“ eine großartige Gelegenheit, diese zu erkunden, obwohl wir es bei diesem Film mit einer viel schwierigeren Begegnung zu tun haben: der des britischen Hongkonger Ex-Soldaten Kwan Chai und des jungen südasiatischen Diebs Mani (dessen genaue Herkunft nie angegeben wird, wenn ich mich nicht irre). Außerdem lernen wir von Anfang an einige Schildkröten-Schmuggler aus Taiwan kennen, so dass am Ende mindestens drei verschiedene kulturelle Hintergründe miteinander interagieren, eindeutig in einer konfliktbeladenen Weise: Kwan zum Beispiel besteht darauf, Mani wegen seiner Hautfarbe „ Brownie“ zu nennen und weigert sich irgendwie, Manis Identität anzuerkennen oder sie zumindest nicht in Frage zu stellen. Immerhin endet Mani gezwungenermaßen in Kwans Wohnung, als er sich vor einigen Mitgliedern der Triaden versteckt, die nach den vielen Kilo Drogen suchen, die Mani und seine Cousinen gerade gestohlen haben, was Kwan sicherlich nicht dazu bringt, ihn zu respektieren.

Fürs Protokoll: ich habe gegoogelt, wofür „Triade“ steht: Laut Wikipedia „ist es ein chinesisches transnationales Syndikat der organisierten Kriminalität mit Sitz in Großchina mit Außenposten in verschiedenen Ländern“. Im Film wird deutlich, dass die Triaden eine starke hierarchische Struktur und ein kompliziertes Netzwerk haben. Kwan ist Mitglied der Triaden, obwohl der Film ziemlich direkt zeigt, dass er kein typischer gefühlloser Kriminelle ist. Wie der italienische Filmkritiker Placereani in einem seiner Interviews für das FEFF über Gangsterfilme ausdrückt, ist dem Gangsterfilm-Genre eigen, dass es einen „Ehrenkodex“ gibt, der verloren geht (oder nie existierte) und den nun von der verzweifelte Protagonisten wieder gewinnen will. In diesem Sinne und gerade wegen der lockeren Bindung zum jungen, verzweifelten, aber gutherzigen Mani erinnert dieser Film sofort an „Léon: The Professional“ (Besson, 1994), wo zwischen Léon und Mathilda eine besondere Beziehung entsteht, und sie sich schließlich mehr als zu erwarten wäre, einander helfen, obwohl sie doch scheinbar kaum gegensätzlicher sein können. Sie finden sich (wieder) und vermeiden es, in die Leere ihres früheren Lebens zu fallen. Ähnliches passiert in diesem Neo-Gangster-Film aus Hongkong, der sehr gut in seine kinematografische Tradition eingeschrieben ist.

Heute habe ich auch mehr über die Filme mit dem Label „White Mulberry Award for First Time Director Competition“ herausgefunden: Anscheinend gibt es in Hongkong ein Programm namens First-Feature-Film, um die Karriere neuer junger Filmregisseure zu fördern, und so wurde dies auch eine Programmschiene innerhalb des FEFF. Zu meiner Überraschung konkurrieren alle vier von mir ausgewählten Filme um diesen Preis. Wie Tim Youngs vom Festival-Team in seinem Online-Interview für das FEFF betonte, hat „Hand Rolled Cigarette“ sehr gute Chancen, den Preis zu gewinnen: Obwohl mit sehr geringem Budget produziert, ist der Film extrem gut gemacht, visuell gut gestaltet und auch in den dunklen Nuancen gut ausbalanciert, so dass er vollkommen der Definition des „Neo-Noir-Krimi“ entspricht. Wenn Mani durch die labyrinthischen Gebäude der Stadt schleicht, kommt der Mangel an Licht und Raum sehr gut zum Ausdruck. Wieder und wieder bewegen wir uns zwischen diesen Gebäude-labyrinthen, an die der durchschnittliche europäische Zuschauer definitiv nicht gewöhnt ist. Man spürt, wie die hohe Bevölkerungsdichte ein klaustrophobisches Gefühl verursacht, jedoch ganz anders als bei „Money Has Four Legs“, den ich gestern gesehen habe. Mani, und mit ihm Kwan, die beiden verstecken sich praktisch, obwohl sie sich eigentlich auf die Möglichkeit freuen, zu entkommen, ihr aktuelles Leben hinter sich zu lassen und von vorne anzufangen. Aber die Erlösung muss an erster Stelle stehen. Und am Ende erreichen sie ihr jeweiliges Erlösungsziel, wenn auch jeder auf eine andere, selbstreflexive Weise…

Szene aus “Hand Rolled Cigarette” (Hongkong, 2020)

2. Juli 2021 – Die Entdeckung der Familie im Herzen von China mit Madou und Guoren in “Wie Vater und Sohn “ ( Bai, 2020)

Der Film, den ich für den letzten Tag des Festivals übrig gelassen hatte, ist wirklich herzzerreißend. Wie der Regisseur selbst in seiner Einführung bei der Vorführung feststellte, ließ er sich vom italienischen Neorealismus inspirieren. Des Realismus halber sind die Schauspieler weder Profis noch sprechen sie Mandarin: Beide Schauspieler haben ihren ersten Auftritt auf der großen Leinwand und beide sprechen den lokalen Dialekt von Nord-Shaanxi, einer nördlichen Zentralprovinz Chinas, die weltweit berühmt ist ihre Terrakotta-Soldaten. Neben der Sprache, den Schauspielern und den Schauplätzen ist es der Sound, der durchaus realistisch ist: Der Regisseur bevorzugt das, was Michel Chion (ein französischer Komponist und Wissenschaftler) als „Ambient Sound“ bezeichnet hat. Darunter versteht Chion, Räume und Situationen meist durch ihre Geräusche zu konstruieren, und sie nicht mit überlagerten Tonspuren zu begleiten oder zu betonen. Selbst in der Nacht spürt man zum Beispiel die Tiefe des dunklen und kalten Raumes dank der wenigen, lebendigen, isolierten Schritte der Figuren – sorgfältig kontrastiert von intensiven Momenten reiner kinematografischer Stille. Aber in diesem Film geht es im Wesentlichen um Emotionen, denn unsere Protagonisten haben beide ihre Familien verloren, allerdings aus komplementären Perspektiven: Madou ist ein Kind um die 10 Jahre, seine Eltern haben ihn in einem abgelegenen Dorf auf dem Land zurückgelassen, seine geliebte Großmutter kümmert sich am Anfang rührend um ihn, aber die Zeit vergeht… und die Menschen auch. Guoren ist ein Mann in den Fünfzigern (ungefähr), er zieht als fliegender Händler nomadisierend durch die Gegend und verkauft seine Waren, und wir verstehen allmählich, dass er sein Kind verloren hat, das nur ein bisschen älter als Madou gewesen sein muss.

Der mürrische Madou und der tollpatschige Guoren werden am Ende gemeinsam nach dem Vater des ersteren suchen: Guoren hilft ihm zunächst nicht aus edlen Gründen, denn er sucht nur jemanden, der ihm die Sachen bezahlen kann, die Madou aus Versehen ruiniert hat. Wie zu erwarten ist, verbinden sich die beiden trotz ihrer anfänglich feindseligen Haltung. Als sie einige Zeit miteinander verbracht haben, erkennen sie schließlich, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als sie sich vorstellen konnten: Beide passen nicht gut zu ihren Bekannten und wurden irgendwie an den Rand der Gesellschaft gedrängt; beide neigen dazu, auf Not mit feindseliger Sturheit zu reagieren, und vor allem haben sie beide ihre Lieben verloren. Als Folge davon fühlen sie sich jetzt verloren und obdachlos. Ihre Begegnung bringt beiden bis zum Schluss Vorteile: Dank der gemeinsamen Reisen und der vielen Missgeschicke wird Guoren seine Trauer nach einem lebenslangen Kampf überwinden, während Madou, noch jung und voller jugendlicher Hoffnung, am Ende begreift, wie hart das Leben sein kann, aber auch, dass man damit umgehen kann. Eine doppelseitige menschliche Lektion, die uns aber kein wirklich herzzerreißendes Ende beschert, bei der wir zwischen Tränen der Traurigkeit und Aufregung aufgespießt wären.

Szene aus “Like Father and Son” (Bai, 2020)

Von interkulturellen Begegnungen über urbane Bilder bis hin zu gesellschaftspolitischen Themen war mein FEFF 2021 (trotz Online-Format!) einr sehr aufregende cineastische Erfahrung. Je weiter ein Land von der eigenen Kultur entfernt ist (geografisch, sprachlich, mental…), desto mehr kann man durch seine Filme ästhetisch, inhaltlich und kulturell lernen. Das Beste für mich ist, dass jetzt noch neugieriger auf „Far East Asia“ bin als vor dem Festival – ein perfekter Ansporn, das interkulturelle Sehen und Lernen weiter voranzutreiben. Symbol „Von der Community überprüft“

Titelfoto: „Udine FAR EAST FILM Festival“ Facebook Seite

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