Feuillade for ever!
„Vendémiaire“ von Louis Feuillade im Programm des „Cinema Ritrovato“ in Bologna.
Wo und wann hat man schon Gelegenheit diesen im Jahr 1918 entstandenen Stummfilm zu sehen, wenn nicht in der Programmsektion „Cento anni fa“ (Vor einhundert Jahren) beim Festival in Bologna? „Vendémiaire“ wird sehr selten gezeigt, und einer der Gründe könnte seine erbarmungslos antideutsche Grundhaltung sein, mit der der Film nicht mehr in unsere Zeit zu passen scheint.
Nach der Vorführung gewann ich bei meinen Gesprächen mit meinen französischen Freunden und Bekannten sogar den Eindruck, dass sie sich fast schämten für die erbarmungslos antideutsche Grundhaltung des Films. Ich versuchte zu sagen, dass diese antideutsche Haltung historisch bedingt sei, der Film jedoch trotz dieser Grundhaltung Eigenschaften habe, die ihn zu einem der großen Meisterwerke des Stummfilms machen.
Aber der Reihenfolge nach …
1917/18 gedreht, also mitten in dem von beiden Seiten mit aller Härte geführten Ersten Weltkrieg, lässt sich der Film gerne als Propagandafilm einordnen, aber das bringt nicht weiter.
„Vendémiaire“ ist im französischen Revolutionskalender der Erntemonat, und der Film spielt dann hauptsächlich zur Zeit der Weinernte (frz.: vendanges) auf einem Weingut im Süden Frankreichs, wo im Languedoc ein gewöhnlicher Tischwein produziert wird, der sog. „Pinard“, den auch die Soldaten in den Schützengräben bekamen.
Auf dem Weingut treffen viele Erntehelfer ein, unter die sich auch zwei flüchtige deutsche Kriegsgefangene gemischt haben. Das ist ihnen gelungen, weil sie ihre Identität geändert haben. Wie das geschieht, wird in aller Brutalität in der Eingangssequenz des Films geschildert: die zwei flüchtigen deutschen Kriegsgefangenen lauern auf einer Landstraße zwei Belgiern auf, ermorden sie kaltblütig und stehlen ihnen ihre Papiere. Damit ist der Film sofort auf einem dramatischen Niveau, das er nur für kurze Ruhemomente verlassen wird.
Auf die Eingangssequenz folgt ein harter Schnitt; wir befinden uns vermutlich in Lyon, wo ein temporär vom Militärdienst befreiter Mann, Bertin, auf einem Lastkahn anheuert. Dort trifft er auf eine Flüchtlingsfamilie aus Nordfrankreich, die ihre Heimat wegen der vorrückenden feindlichen deutschen Armee hatte verlassen und ihre Ernte aufgeben müssen. Die Tochter der Familie sorgt sich um ihren zur französischen Armee eingezogenen Bräutigam, der sie noch besucht hatte, als die Deutschen schon im Dorf waren.
Der Film flicht sein dichtes dramaturgisches Netz weiter; die Flüchtlingsfamilie und Bertin finden sich auf dem gleichen Weingut wieder wie die flüchtigen deutschen Kriegsgefangenen; und gleichzeitig erweitert der Film seine handelnden Personen um die Besitzerfamilie des Weingutes, um den erblindet aus dem Krieg zurückgekehrten Sohn der Besitzer und um einige Bedienstete des Weingutes bis hin zu einer ganz am Rande der Gesellschaft stehenden Person, einer Roma. Feuillade will hier mit allem Nachdruck zeigen, dass im Krieg die französische Gesellschaft niemanden aus ihrer Mitte verstoßen und ins gesellschaftliche Abseits stoßen darf. Denn im letzteren Fall werden die Ausgestoßenen aus purer Not kriminell. So nebenbei sei die Frage erlaubt, ob das nur für den Kriegsfall gilt.
An dieser Stelle möchte ich die Schilderung des Inhalts des Filmes abbrechen, da der Knoten sozusagen geschürzt ist, und die Darstellung der weiteren dramatischen Entwicklung nicht erforderlich ist. Es ist jedoch aus der gegebenen Beschreibung ersichtlich, dass der Film gleich mehrere dramatische Fäden spinnt, die den Zuschauer ständig in Atem halten.
Es ist bewundernswürdig wie Feuillade diese verschiedenen Handlungsebenen im Gleichgewicht hält – das ist ein nachdrücklicher Beweis seiner Fähigkeiten als Regisseur.
Foto: Cinémathèque francaise