Ein konstrastierender Vergleich
Bei der Berlinale 2020 habe ich innerhalb weniger Tage die Welturaufführung von „Rizi“ des auf Taiwan lebenden chinesischen Regisseurs Tsai Ming-Liang und die Aufführung der 4K-Restaurierung des ursprünglich auf 16mm gedrehten Debutfilms „Xiao Wu“ (Taschendieb) von Jia Zhang-ke sehen können, der im chinesischen Main-Land lebt.
Ein Vergleich der beiden Filme, die verschiedener kaum sein können, drängte sich auf.
Meine persönliche Rezeptionsgeschichte der Filme Jia Zhang-kes ist etwas kompliziert und ebenfalls ganz verschieden von meiner Rezeptionsgeschichte der Filme Tsai Ming-Liangs. So möchte ich im Weiteren beide rekapitulieren, denn ist es oft nicht so, dass die persönliche Rezeptionsgeschichte unsere Einschätzung und Begeisterung aber auch Abneigung oft stark beeinflusst? Den falschen Film zur falschen Zeit gesehen, und schon glaubt man ein gültiges Urteil gefällt zu haben, das sich später dann doch als subjektiv erweist, das zu revidieren aber trotzdem oft schwer fällt.
Beginnen wir mit Jia Zhang-ke. Wenn ich mich nicht vollkommen täusche, habe ich einige seiner Filme auf DVD und im Fernsehen gesehen, lange bevor ich endlich einen der Filme des Regisseurs im Kino bewundern konnte.
So sah ich auch „Xiao Wu“, den 1998 entstandenen ersten Spielfilm Jia Zhang-kes, zuerst auf DVD. Die große Präzision, der vollkommen fehlerlose dramaturgische Aufbau des Filmes, fielen mir auch da schon auf. Jia Zhang-ke hat seine Fähigkeiten als Regisseur ständig verbessert, bis er mit „Touch of Sin“ (2013) einen Film von gnadenloser Härte und Unerbittlichkeit gedreht hat, der mit seiner stringenten Dramaturgie den Zuschauer sozusagen ständig vor sich hertreibt – für mich eines der großen Meisterwerke des chinesischen Films.
Und nun zu Tsai Ming-Liang. Im Gegensatz zu Jia Zhangke kann ich mich an den ersten Film Tais Ming-Liangs, den ich gesehen habe, sehr gut erinnern. Es war der Film, der 2006 bei der Berlinale als „Melonenporno“ diskreditiert wurde; von Journalisten und Journalistinnen, die wohl nur ihr Tagesgeschäft im Blick hatten und ohne recht hinzuschauen, einen Film abwerteten, der nun mal vielleicht nicht so leicht zugänglich ist wie Hollywood-Dutzendware.
So wie viele frühen Filme Tsai Ming-Liangs ist auch der „Melonenporno“, dessen richtiger Titel „The Wayward Cloud“ lautet, ein Film, der eigentlich aus mindestens zwei Filmen besteht. Eingestreut sind populäre chinesische Lieder, die eine ganz eigene Geschichte erzählen. Das gleicht sehr Ming-Liangs Film „The Hole“ , dessen Handlung sich um den Jahreswechsel vom letzten zum jetzigen Jahrtausend dreht. Unaufhörliche Regenfälle führen zu Wasserrohrbrüchen, die wiederum Löcher im Mauerwerk der Mietskasernen schaffen, so dass plötzlich Menschen zueinander Kontakt finden, die vorher achtlos aneinander vorbei gingen. Die eingestreuten Lieder jedoch sind Adaptionen von Liedern einer – zumindest in China – sehr bekannten chinesischen Sängerin aus den fünfziger Jahren, Grace Chang, so ihr „westlicher Name“ – und diese Lieder wiederum sind eine Auseinandersetzung mit westlicher Kultur, denn es sind z. T. Lieder im Rock’n-and-Roll-Stil. So sind die frühen Filme Tsai Ming-Liangs vielschichtige Angelegenheiten, und die Kritiker und Kritikerinnen, die bei der Berlinale „The Wayward Cloud“ als Melonenporno abtaten, hatten den Film wohl einfach nicht verstanden oder brauchten eine griffige Schlagzeile. Der Anlass für den Spitznamen war die Hauptfigur des Filmes, ein junger Mann, der eben im Pornofilmgeschäft tätig ist, eine offenbar harte und anstrengende Arbeit, die ihn für die Zuneigung einer jungen Frau unempfindlich macht. Die Beziehung ist schlicht zu anstrengend für ihn …

„The Hole“ von Tsai Ming-Liang (1998)
Nun hat sich Tsai Ming-liang vor einiger Zeit geoutet und zu seiner Homosexualität bekannt. In China – Tsai Ming-Liang lebt auf Taiwan – offenbar immer noch ein sehr mutiger Schritt. In seinem Film „Rizi“ geht es um nichts anderes als um zwei Männer, ihre Begegnung, ihren Tagesablauf. Der junge Mann ist der bezahlte Liebhaber des älteren. Sie werden sich in einem Hotel treffen; ihre Begegnung ist fast wortlos und dauert im Film sehr lange. Vorher sehen wir den jungen Mann beim Zerschneiden von Gemüse und bei der Zubereitung seines traditionellen Essens. Der ältere Mann bewohnt ein großes Haus und starrt aus den Fenstern in die regengepeitschte tropische Landschaft. Alles beobachtet die Kamera minutiös und mit einem quasi dokumentarischen und leicht distanzierten Blick. Wir sehen den jungen Mann durch die Straßen gehen, einkaufen, alles fast wortlos und ohne eigentliche Kontakte mit anderen Menschen.
Das trifft so auch auf den älteren Mann zu, von dem wir fast noch weniger erfahren und kaum mehr wissen, als dass er sich ein teures Hotel und einen Liebhaber leisten kann, den er bezahlt. Wir sehen zwei Individuen, die in keinerlei gesellschaftlichen Kontexten verankert erscheinen. Tsia Ming-Liang zeigt zwei Männer, die sich kurz begegnen – der Film dauert jedoch über 100 Minuten – und die keine anderen Interessen haben als sich selbst. Ein Rückblick auf die älteren Filme Tsai Ming-Liangs zeigt, dass auch die Figuren seiner früheren Filme kaum gesellschaftlich verankert sind, familiäre Verhältnisse kommen nur ansatzweise vor und in welchen sozialen Verhältnissen sie leben, wird nur wenig thematisiert. Es geht vorrangig immer um die individuellen Konflikte und Interessen der Protagonisten und Protagonistinnen.
In dem hier besprochenen Film „Rizi“ (Tage) ist das auf die Spitze getrieben. Mit anderen Menschen treten die beiden Protagonisten praktisch in keinen Kontakt – der Film hat keinen Dialog! Die Menschen auf der Straße huschen wie Schatten vorüber; die beiden Protagonisten nehmen sie und ihre Umwelt kaum wahr. Sie sind zurückgeworfen auf sich selbst. Zwei auf sich selbst reduzierte Individuen.
Wenn sie sich trennen, ist ein Tag vergangen, und man darf annehmen, dass sich die anderen Tage der beiden Protagonisten nur wenig von diesem unterscheiden. Das ist der Titel des Films: Tage.
Vollkommen konträr der Film Jia Zhang-kes. Der Protagonist ist, wie der Titel schon sagt, ein Taschendieb. So ist bereits mit dem Titel eine soziale Rolle angegeben. In den Mittelpunkt eines Filmes eine Figur zu stellen, die kein Held der sozialistischen Gesellschaft sein kann, sondern ganz im Gegenteil sich sein Auskommen durch Diebstahl sichert, zeugt nicht zuletzt von dem großen Mut des Regisseurs angesichts der bekannt unberechenbaren und oft rigiden chinesischen Zensur.
Es ist wohl nicht weiter verwunderlich, dass die Weltpremiere des Films nicht in China stattfand, sondern im Rahmen des Internationalen Forums des Jungen Films bei der Berlinale im Jahr 1998. Der Film spielt in einer wenig attraktiv erscheinenden chinesischen Kleinstadt. Dort geht der Taschendieb seinem „Gewerbe“ nach: er stiehlt Personalausweise. Die Volksrepublik China hat erst im Laufe der achtziger Jahre Personalausweise für die Bevölkerung eingeführt, und die Fälschung von Personalausweisen wurde offenbar zu einem einträglichen Geschäft. Der Protagonist des Films lebt jedoch unter eher erbärmlichen Bedingungen – offenbar gehen seine „Geschäfte“ nicht gut. Um sich zu duschen, muss er eine öffentliche Einrichtung aufsuchen. Seine sozialen Beziehungen sind fragil. Seine Freundin, die er in einer heruntergekommenen Karaoke-Bar kennengelernt hat, verlässt ihn, ohne es ihm überhaupt zu sagen. Sie ist einfach weg, und von ihren Freundinnen erfährt er, dass sie mit einem reicheren Mann die Stadt verlassen hat. Der Vater des Taschendiebes wirft ihn nach einem Streit aus dem Haus.
Allerdings bleibt der Film dem Zuschauer/der Zuschauerin eine wichtige Erklärung schuldig: es wird nicht vollständig deutlich, wie für den Taschendieb aus den gestohlenen Personalausweisen faktisch Gewinn in barer Münze entsteht. Wir sehen nur, dass der Taschendieb die Personalausweise in einen falschen Briefkasten wirft. Wer aber der Empfänger ist, erfährt der Zuschauer/die Zuschauerin nicht. Hier hat der Film eine entscheidende, vielleicht sogar absichtlich angelegte Leerstelle. Man könnte vermuten, dass vielleicht sogar ein korrupter Polizist der Abnehmer sein könnte. Möglich wäre auch, dass hier die Zensur einen entscheidenden Schnitt durchgeführt hat, genauso möglich erscheint mir, dass der Regisseur diese Frage absichtlich offen ließ. Auch wir müssen diese Frage offen lassen.
Eines Tages wird der Taschendieb verhaftet. Die den Film abschließende Sequenz ist von großer Nachdrücklichkeit. Der Polizist, der den Taschendieb verhaftet hat, fesselt ihn an einen Laternenpfahl, weil er eine Besorgung machen muss. Auch hier könnte man vermuten, dass der Polizist das nur vorgibt und den Taschendieb absichtlich dem aussetzt, was folgt. Die wütende Menschenmenge, die den Taschendieb umsteht, beschimpft und verhöhnt, kommt immer näher …

Einstellung aus der Schlusssequenz von „Xiao Wu“ (Taschendieb) von Jia Zhang-ke.
Ein offenes Ende, so ganz anders als das Ende des Film Tsai Ming-Liangs Bei Tsai Ming-Liang wird der nächste Tag nicht viel anders sein anders sein als der vergangene; bei Jia Zhang-ke ist kein Tag wie der andere …