Ein Festival-Tagebuch in Zeiten der Corona-Pandemie – 1. Teil

ERSTER TEIL


2 Monate vor dem Beginn des 19.  Stummfilmfestivals Karlsruhe

Ende November/Anfang Dezember 2021 war der zu erwartende Verlauf der pandemischen Situation mehr oder weniger unklar. Wir mussten aber in unserem kleinen Team eine Entscheidung treffen, ob wir das Stummfilmfestival veranstalten wollten. Im Laufe des Dezembers verfestigte sich meine persönliche Auffassung und die des Teams, das Festival jedenfalls zu veranstalten und nur dann abzusagen, wenn aufgrund einer Verordnung der Landesregierung von Baden-Württemberg die Durchführung nicht mehr möglich sein sollte.

Dies kommunizierte ich intern den Mitgliedern des Trägervereins des Festivals und auch den viele hunderte von Personen umfassenden Kreis der Empfängerinnen und  Empfänger unseres Newsletters; schließlich dann auch per Pressemitteilung an die lokale Zeitung und weitere regionale und überregionale Medien. In den lokalen Monatsmagazinen waren Annoncen sowieso erschienen.

Eine wichtige Entscheidung galt es für die Redaktion der Programmbroschüre zu treffen, die normalerweise zweisprachig erscheint. Die letztlich ungewisse Situation führte zur Entscheidung, die Programmbroschüre nur einsprachig herauszugeben, um im Falle einer kurzfristigen Absage die Kosten nicht unnötig in die Höhe getrieben zu haben.

Die Redaktion der Programmbroschüre erfordert relativ viel Zeit; und auch für den Druck und die Auslieferung wird mehr als eine Woche Zeit benötigt. Die Entscheidung musste also frühzeitig im Dezember getroffen werden.

Anfang Januar 2022

Die pandemische Lage und die Aussagen der zuständigen Regierungsmitglieder bzw. Institute gestalten sich so, dass die Möglichkeit eines Lockdowns immer unwahrscheinlicher wird.

So kann nach dem Ende der Weihnachtsferien und einer Sitzung der entscheidenden Gremien in Berlin am 9. Januar definitiv entschieden werden, dass das Festival vom 26. bis zum 30. Januar 2022 stattfinden kann.

Am 11. Januar geht die Programmbroschüre in Druck; eine weitere Verzögerung erscheint mir nicht ratsam, weil die Druckerei beim Druck des Faltblatts zum ersten Mal seit vielen Jahren selbst den Liefertermin nicht einhalten konnte, und es zu einer verspäteten Auslieferung gekommen war. Der Grund hierfür blieb unklar: Papiermangel oder hoher Krankenstand und Personalengpass?

Am 15. Januar, also 11 Tage vor dem Festival, schreibe ich einen Newsletter, dass wohl nicht mehr mit einem Lockdown zu rechnen sei und das Festival auf jeden Fall stattfinden könne.

Die Zeit nach der Drucklegung der Programmbroschüre bringt für mich normalerweise eine kurze Erholungsphase, da zu dieser Zeit alle Filme bestellt, das Hotel für die Musikerinnen, die Musiker und andere eingeladenen Gäste reserviert sind und bestenfalls noch einige organisatorische Dinge zu regeln sind.

Dieses Jahr wachsen sich diese Details allerdings zu Problemen aus, da wir in einem Saal sind, den wir noch nie genutzt haben; in diesem Saal weder Ton- noch Projektionstechnik vorhanden ist, und schließlich die pandemische Situation und die geltenden Regeln weitere organisatorische Maßnahmen erforderlich machen.

Ein in der Festhalle Durlach ständig probendes Orchester zeigt sich wenig hilfsbereit, als geklärt werden muss, wie der relativ kleine Kaps-Flügel von der Bühne in den Saal heruntergehoben werden soll.

Ich bekomme eine Email mit einem Presseartikel, demzufolge sich ein Mensch hat von einem Konzertflügel erschlagen lassen, als er versuchte, einen 400kg schweren Flügel allein zu transportieren. Ein ähnliches Schicksal soll mir nicht widerfahren, und so beauftrage ich eine Spedition mit der Aufgabe, den Flügel ca. 80 cm von der Bühne in den Saal zu bewegen.

Für den Schlagzeuger, der mit dem Projektensemble Déjà Vu unter Leitung von Gabriel Thibaudeau den Eröffnungsfilm begleiten wird, muss ein Schlagzeug angemietet werden, weil man ein Schlagzeug eben nicht als Handgepäck in den TGV von Paris nach Karlsruhe mitnehmen kann. Nach einigen kleinen Verständnisproblemen klappt das dann reibungslos und zur großen Zufriedenheit des Schlagzeugers.

Bis ich jedoch ein passendes Plexiglas-Schild zum Schutz des Kassenpersonals finde, vergeht mehr Zeit und es kostet mich ein paar Nerven. In einem Karlsruher Baumarkt, wie jemand mir geraten hat, finde ich nichts, auch nicht bei einer spezialisierten Karlsruher Glaserei, die nur nach Maßanfertigung und mit 14 Tagen Lieferfrist produziert, so dass ich annehmen muss, der Preis würde dann wohl so gestaltet, als ob ich einen Maßanzug vom Schneider machen ließe, so dass viel mehr Zeit vergeht als vorgesehen. … Schließlich finde ich in den Weiten des Internets eine Firma in den Niederlanden (!), die schnell und relativ preiswert liefert. Ich gebe bei der Bestellung gleich die Adresse der Festhalle Durlach für die Anlieferung an. Das Spuckschild soll am 26. eintreffen, dem Tag der Eröffnung des Festivals. Mal sehen …

Dienstag, 25. Januar 2022: Ein Tag vor dem Festival –

Ich schreibe an die Mitglieder des Trägervereins des Festivals eine Email mit dem sehr klaren Satz: „ Die meisten Probleme sind gelöst.“

Der Flügel steht im Saal und ist gestimmt; das Stadtamt Durlach hat das einige Seiten lange Hygiene-Konzept erhalten; ich habe auf meinem mobilen Telefon die Software installiert, mit der die Impf- und Testzertifikate der Besucherinnen und Besucher gescannt werden können.

Im Laufe des Tages sind die Musikerinnen und Musiker des Ensembles angereist, das bei der Eröffnung des Festivals Ernst Lubitschs „The Marriage Circle“ (Die Hochzeit im Kreise) begleiten wird, und haben ihr Hotel bezogen. Auch meine Mitarbeiterin und stellvertretende Festivalleiterin Maria Adorno ist in Karlsruhe eingetroffen.

Der Vorabend des Festivals:

Wir treffen uns alle zu einem Abendessen im Restaurant „Rosa Bianca“. Die Stimmung ist gut, ich bin froh, dass offenbar alles soweit geregelt ist. Nur unser Kinotechniker, der eigentlich schon da sein sollte, ist noch auf der Autobahn und kommt nicht mehr rechtzeitig zum Essen. Und Jean Michel Davis, der wegen einer anderen Verpflichtung erst am Nachmittag aus Paris losfahren konnte, lässt sich vom Taxi vom Bahnhof direkt zum Restaurant fahren.

Das „Rosa Bianca“ habe ich mal als italienisches Restaurant mit deutschem Stil bezeichnet, und Marias Vater hat mir mit meiner Einschätzung recht gegeben. In Italien gibt es so gut wie nie Saucen zum Fleisch oder Fisch – im „Rosa Bianca“ schon. Nur der Weißwein aus dem Piemont, den wir trinken, ist rein italienisch: der von mir sehr geschätzte Arneis.

Die Unterhaltung ist wie üblich mehrsprachig. Wir wechseln vom Französischen ins Englische, hin und zurück, zwischendurch wird auch mal Italienisch gesprochen, und die deutschsprachigen Anwesenden quasseln deutsch.

 

Mittwoch, 26. Januar 2022 – Erster Festivaltag  – Eröffnung

Unser Kinotechniker Jens Göldner hat seine Hilfskräfte auf 8 Uhr bestellt, ich selber habe vor, erst später zu kommen. Allerdings muss ich sehr viel vorbereiten und darf nichts vergessen, weil ich sonst noch mal von Durlach zu mir nach Hause muss, was einen erheblichen Zeitverlust bedeuten würde.

Das sind im Wesentlichen: alle Kassen, Merchandising, Programmhefte, Faltblätter, Reservierungslisten, die Verpflegung für die Musiker und Musikerinnen, und dann noch die corona-bedingten Details: genügend Kopien des Hygiene-Konzeptes, für Besucherinnen und Besucher, die ihre Daten nicht auf dem Smartphone haben, ausgedruckte Formulare zum Ausfüllen, usw. usf. Gewöhnlich vergesse ich immer etwas, am liebsten meinen Korkenzieher, den wir zum Öffnen der Prosecco-Flaschen beim Stehempfang brauchen. Und natürlich muss auch der Prosecco mitgenommen werden, der dank der Winterszeit schon eine Nacht auf dem Balkon gestanden und vorgekühlt ist.

Ich überlege beim Schreiben gerade, wer mich abgeholt und nach Durlach gebracht hat, und komme nicht mehr drauf: war es Frank? Vielleicht. Doch ja, und wir hatten etwas Mühe, alles in dem nagelneuen Auto unterzubringen, das er sich ausgeliehen hatte (bei der Werbeagentur, wo er arbeitet).

Als ich in der Festhalle Durlach eintreffe, ist die Kinotechnik schon weitgehend aufgebaut, alles steht auf der Empore. Ich hatte es der Entscheidung unseres Kinotechnikers Jens Göldner überlassen, ob er auch den relativ schweren analogen 35mm-Projektor auf der Empore stationieren wollte. Jens hat aber den Projektor in Teilen gebracht, so dass es möglich war, alles auf der Empore einzurichten.

Auch das Schlagzeug ist schon angeliefert, und als ich mich auf die Suche mache, finde ich das Plexiglas-Schutzschild im Hauseingang des unmittelbar an die Festhalle angrenzenden Wohngebäudes. Ich freue mich – alles da!

Als dann die Musiker eintreffen, um ihre letzte Probe vor der Aufführung zu machen, sind wir leider mit unseren vielfältigen Vorbereitungen doch noch nicht fertig. Mehrmals werden wir ermahnt, dass mit starken Hintergrundgeräuschen nicht geprobt werden könnte. Schließlich drosseln wir unsere Aktivitäten usw. soweit herunter, dass das Ensemble geprobt werden kann.

Während im Saal geprobt wird, richten wir den Vorraum der Festhalle für die Kassen und den Merchandising-Verkauf her, positionieren die Tische für die pandemie-bedingte Kontrolle der Besucherinnen und Besucher. Die Kräfte für die Kasse, das Merchandising und den Einlass kommen und können eingewiesen werden.

Die Zeit vergeht wie im Flug, und schon ist es 18.15 Uhr. Für diese Zeit hatte ich ein Gespräch mit der Leiterin des Kulturamtes und Herr Matthias Reich vereinbart, der im Kulturbüro für den Filmbereich zuständig ist. Sie kommen pünktlich und wir ziehen uns in einen Nebenraum zurück, wo wir ungestört reden können. Maria Adorno nimmt auch an diesem Gespräch teil, das in sehr angenehmer Atmosphäre verläuft.

Dann ist es auch schon 19.00 Uhr und nur noch eine halbe Stunde bis zum Beginn der Eröffnung des Festivals.

Und schließlich ist es soweit. Wenn bei den früheren Festivals so ungefähr 200 Besucherinnen und Besucher zur Eröffnung kamen, sind es dieses Mal nicht ganz 70, denn mehr Personen dürfen wir unter den aktuellen Bedingungen nicht in den Saal lassen. Das Durchschnittsalter des Publikums des Stummfilmfestival ist höher als das bei anderen Veranstaltern in Karlsruhe.  Ich kann direkt sehen, dass viele unserer älteren Besucher und Besucherinnen tatsächlich nicht gekommen sind, und selbst die Fraktionen des Gemeinderats sind mehr als spärlich vertreten. Einige ältere Besucherinnen und Besucher haben mir auch per Email mitgeteilt, dass sie doch sehr eine Ansteckung fürchten würden, und die Impfung würde an ihrer vorsichtigen Haltung nichts ändern. Es waren nicht wenige, die aus Gründen der Vorsicht nicht kamen. Mir wurde immer wieder berichtet, dass Vereinsmitglieder in Karlsruhe immer wieder gefragt wurden, ob wir das Festival tatsächlich veranstalten würden. Und uns sehr mutig fanden.

Trotzdem – alle, die da sind, freuen sich sehr, dass sie nach zweijähriger Pause wieder ein Stummfilmfestival erleben können. Das wird mir in zahlreichen Gesprächen im Laufe des Abends versichert. Und es gibt auch keinerlei Probleme bei der Kontrolle der Impfzertifikate usw. beim Einlass. Das Publikum akzeptiert die aufgrund der Corona-Verordnung notwendigen Kontrollen. Und all jene, die sich an diese Verordnungen nicht halten wollen, sind offenbar ebenfalls zu Hause geblieben.

Nach den Grußworten von Bürgermeister Dr. Albert Käuflein und mir kann  dann die Vorführung des Eröffnungsfilmes beginnen.

Gabriel Thibaudeau hat für das Projektensemble Déjà Vu eine fast experimentell zu nennende Begleitmusik geschrieben. Gabriel Thibaudeau hat mit der Violinisten Silvia Mandolini aus Bologna, dem Schlagzeuger Jean Michel Davis aus Paris und Heidemarie Gohde (Stimme) ein einzigarties Ensemble gebildet. Insbesondere die Rolle, die Heidemarie Gohde dabei übernahm, war mutig und zum Teil gewagt. Sie setzte ihre Stimme einerseits instrumental ein (wenn man das so sagen kann), sprach aber andererseits den durch die Zwischentitel vorgegebenen Dialog.

Über Ernst Lubitsch Film an dieser Stelle etwas zu sagen, was nicht schon gesagt worden ist, fällt mir schwer. „The Marriage Circle“ ist mit all seiner Leichtigkeit eines seiner Meisterwerke. Trotzdem spürt man, dass diese Geschichte auch eine andere Richtung ins Fatale und Tragische nehmen könnte, wenn etwa eine der Personen des Stücks zur Eifersucht neigen würde. Das ist jedoch nicht der Fall.

Nach der Eröffnung folgt noch unser üblicher, kleiner Stehempfang mit dem guten Prosecco, den es immer bei uns gibt. So schließt der erste Abend und alle sind guter Laune und bei guter Stimmung, und dieses Gefühl, dass wir so froh und glücklich sind, dieses Festival in dieser schwierigen Zeit zu erleben, sollte sich bei allen Beteiligten bis zum Abschluss des Festivals halten.

Donnerstag, 27. Januar 2022 – Zweiter Festivaltag

Heute ist aus technischer und organisatorischer Sicht der unproblematischste Tag des Festivals. Das ist auch ganz gut so, den uns allen ist klar, dass der Freitag der schwierigste Tag werden wird. Aber schön der Reihe nach.

Das erste Programm wird  vom Karlsruher Duo Sai Lento begleitet, das sind Reiko Emura und Shinichi Minami, beide kommen aus Japan und leben in Karlsruhe bzw. in Stuttgart.

Es ist Mack Sennetts „Tillie’s Punctured Romance“ mit Charles Chaplin und Marie Dressler, die der lebende Beweis für Michail Bachtins Komiktheorie darstellt. „Tillie’s Punctured Romance“ ist der erste lange Slapstick-Film, der auch als Slapstick-Komödie bezeichnet werden kann, denn er hat eine Handlungsstruktur und reiht nicht nur eine Slapstick-Sequenz an die andere, die praktisch nicht über die Handlung miteinander verknüpft sind. Nur ganz am Ende wird es im Stil der üblichen Mack-Sennett-Slapsticks sehr turbulent, wenn unbedingt noch die Mack-Sennett-Cops im Film untergebracht werden müssen.

An dieser Stelle eine Anmerkung zur Musik: Sai Lento hat einen ganz eigenen Stil der Stummfilmbegleitung entwickelt, der überhaupt nicht konventionell aber auch nicht Neue Musik ist, die nicht nur meiner Ansicht nach meistens den Rhythmus der Stummfilme oft unterbricht und deswegen eher stört und kaum als Begleitung funktioniert. Das Festival hat dem Duo während der letzten Jahre die Möglichkeit gegeben, Filme verschiedenster Genres zu begleiten und so seine musikalischen Fähigkeiten bei der Stummfilmbegleitung kontinuierlich zu entwickeln.

Das zweite Programm des zweiten Tages bietet zwei deutsche relativ frühe Stummfilmkomödien. Wir beginnen mit „Der Karierte Regenmantel“ von Max Mack, den wir nach der Aufführung im Sommerprogramm von  Toujours Kultur zum zweiten Mal zeigen; dieses Mal können wir die sehr schön kolorierte 35mm-Kopie – genau gesagt handelt es sich meistens um eine Virage – der Stiftung Deutsche Kinemathek vorführen.

Der zweite Film, „Das Eskimobaby“ von Heinz Schall (manche Quellen geben Walter Schmidthässler als Regisseur an) mit Asta Nielsen soll der eigentliche Höhepunkt des Abends sein.

Beide Filme werden von dem jungen Pianisten und Komponisten Leo Perrigo begleitet, der im Sommer 2020 zum ersten Mal einen Stummfilm begleitet und eigentlich gleich eine sehr stimmige, selbst komponierte Musik gespielt hat. Er kommt aus der Region und wird künftig regelmäßig hier in Karlsruhe Stummfilme begleiten.

Ich hoffe sehr, dass mir alle Verehrerinnen und Verehrer des großen deutschen Stummfilmstars Asta Nielsen die folgenden Anmerkungen verzeihen. Vergleiche ich die beiden Filme, komme ich nicht umhin, der leichten Verwechslungskomödie von Max Mack den Vorzug zu geben. Bei Max Mack sind die schauspielerischen Leistungen fast aller Darstellerinnen und Darsteller auf gleicher Höhe; im „Eskimobaby“ dominiert die praktisch omnipräsente Asta Nielsen den ganzen Film, die anderen Darsteller fallen ihr gegenüber ab. Dabei erschöpft sich ihre Gestik und Mimik in diesem Film schon beinahe in der unzählige Male wiederholten Nasenreiberei, die dem Publikum als die Art zu küssen der Eskimos präsentiert wird. Auch ist die Handlung etwas dünn. Der Polarforscher hat das „Eskimobaby“ aus Grönland mitgebracht, verheimlicht die geschlossene Ehe vor Eltern und wartender Braut, bis es nicht mehr verheimlicht werden kann. Schließlich erkennt der Forscher, dass der Integrationsversuch gescheitert ist und kehrt mit seinem „Eskimobaby“ nach Grönland zurück.

Dagegen gibt es in Max Macks Film nicht die dominierende und gleichbleibende Mimik und Gestik einer Hauptdarstellerin. Das Tempo des Films stimmt; der visuelle Reiz gerade durch das starke Muster des Regenmantels ist groß – ich möchte hier wirklich eine Lanze für das Genre der leichten deutschen Komödie des Frühen Kinos bzw. der zehner Jahre brechen. Das weitere Programm des Festivals wird am Samstagabend mit „Der Schein trügt“ von Gustav Trautschold die nächste leichte Komödie bringen – und ich möchte daran erinnern, dass wir im Programm des Festivals 2020 mit „Das Luxusweibchen“ bereits einen Film gezeigt haben, der dem gleichen Genre zuzurechnen ist. Diese Filme sind immer Zweiakter, dauern also ca. 20 bis 25 Minuten. In der deutschen Filmgeschichte sind sie bisher unterbewertet. Das sollte dringend geändert werden.

„Der Karierte Regenmantel“ von Max Mack; Foto aus der Kopie

 

Freitag,28. Januar 2022 – Dritter Festivaltag

Nach den zwei Programmen am Donnerstag präsentieren wir heute drei Programme, und wir beginnen um 16.00 Uhr mit einem Kurzfilmprogramm mit Filmen von Alice Guy-Blaché und Louis Feuillade. Für das Publikum, für uns jedoch geht es schon viel früher los, denn abends wird das Jazz-Ensemble „Küspert und Kollegen“ „Das Mädchen mit der Hutschachtel“ begleiten und spätabends steht die Uraufführung der Kompositionen zweier Studierender an, die das von uns so genannte zweite Kurzfilmprogramm „Der Alkoholische Slapstick“ begleiten werden. Diese beiden Vorführungen sind eine große technische Herausforderung. Die Studierenden haben schon am Donnerstag viele Stunden geprobt; heute kommt das Jazz-Ensemble und will auch eine Probe mit dem ganzen Film machen.

Nach dem Festival werde ich eine Email erhalten und der Leiter des Ensembles, Werner Küspert, wird mir für die reibungslose Organisation danken – tatsächlich war es ein Ablauf, der über mehrere Wochen in einem intensiven Email-Austausch mit allen Beteiligten genau geplant worden war. Als es dann um 16.00 Uhr mit dem ersten Programm losgeht, freue ich mich, dass nichts schief gegangen ist.

Kurzfilmprogramm Alice Guy-Blaché und Louis Feuillade

Wir hatten bei der Vorbereitung des Festivals beschlossen, ein eigens Alice Guy-Blaché und Louis Feuillade gewidmetes Programm mit Kurzfilmen zu präsentieren – und der Fokus sollte ganz eindeutig auf Alice Guy-Blaché beruhen. Ich möchte diese Gelegenheit ergreifen, um hier ein paar Gedanken zur Rezeptionsgeschichte des Werkes von Alice Guy-Blaché zu äußern.

Denn ich habe mit den in den letzten Jahren üblichen Ankündigungen, man müsste Alice Guy-Blaché der Vergessenheit entreißen, offen gesagt, ein gewisses Problem. Und zwar, weil mir Alice Guy-Blaché seit langer Zeit als wichtige frühe Regisseurin, als erste Frau der Filmgeschichte, bekannt ist, und somit nicht der Vergessenheit entrissen werden muss. Ich frage mich darüber hinaus bei vielen Aufführungen von Stummfilmen, bei denen mit der vermeintlichen Vergessenheit der Regisseure bzw.  Regisseurinnen, der Drehbuchautorinnen und –autoren, der Darstellerinnen und Darsteller insbesondere bei amerikanischen Filmen operiert wird, ob es sich dabei nicht einfach um eine schon eher etwas abgenutzte PR-Strategie handelt. -Nach dem Motto: mir, uns, kommt der Verdienst zu, irgendeine Person dem Dunkel der Vergessenheit entrissen zu haben. Besonders häufig wird diese PR-Strategie bei Stummfilmvorführungen in den USA von den dortigen Veranstaltern aber auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern benutzt.

Ich gebe aber zu, dass meine Sichtweise doch mehr oder weniger subjektiv sein kann. Zumindest fällt mir auf, dass die Zahl der Publikationen über Alice Guy-Blaché in den letzten Jahren stark zugenommen hat – und das ist gut so. Möglicherweise muss jede junge Generation von Filmwissenschaftlerinnen und Filmwissenschaftlern gewisse Aspekte der Filmgeschichte neu – für sich – entdecken und die Gewichtung mancher dominierender Figuren der Filmgeschichte neu justieren bzw. relativieren gegenüber Personen, die eher in den Hintergrund treten. Aus der Literaturgeschichte ist mir dieses Phänomen hinlänglich bekannt. Nicht nur Autoren und Autorinnen, ja ganze Epochen, erfahren mit gewisser Regelmäßigkeit eine Neubewertung. Für die noch junge Filmgeschichtsschreibung ist dies sozusagen eine Entwicklung, die sie noch nicht kannte.

Zurück zu meiner ganz persönlichen Rezeptionsgeschichte von Alice Guy-Blaché. Vielleicht habe ich das Erscheinen der deutschen Übersetzung ihrer Biographie sehr wohl registriert und dann auch in den zweiten Band der Anthologie du Cinéma geschaut habe, der einen langen Artikel von Francis Lacassin über Louis Feuillade enthält, aber sehr wenige Hinweise zu Alice Guy-Blaché bringt?
NB: Hier führt ein Link zur Besprechung der deutschen Übersetzung der Autobiographie von Alice Guy-Blaché in der ZEIT nach ihrem Erscheinen im Jahr 1981.
Mittlerweile habe ich festgestellt, dass die zehnbändige Anthologie du Cinéma, die in Frankreich seit den sechziger Jahren erschien, keinen Beitrag zu Alice Guy-Blaché enthält. Und das ist ein nicht gutzumachendes Versäumnis. Hier hat sich wirklich eine von Männern geschriebene Filmgeschichte manifestiert, die unbedingt geändert werden muss. Ich werde in absehbarer Zeit hier auf Sinn-und-Cinema einen längeren Artikel zu einer deutschen Drehbuchautorin präsentieren, die in gewisser Hinsicht ebenfalls ein Opfer männlicher Filmgeschichtsschreibung wurde. Allerdings sollte eine feministische Filmgeschichtsschreibung auch nicht ins Gegenteil verfallen, und dann eine feministisch ideologisierte Historiographie anbieten.

„Chirurgie fin de siècle“ von Alice Guy-Blaché

 

Wir wollen die Vorführung nicht vergessen. Das Filmprogramm hatten wir chronologisch geordnet; die Filme von Louis Feuillade, an der Zahl bedeutend weniger als jene von Alice Guy-Blaché, zeigten wir im Anschluss an die Filme der „ersten Frau der Filmgeschichte“, wie sie mittlerweile öfters genannt wird.

Ich hatte befürchtet, dass das Programm etwas ermüdend für das Publikum sein könnte. Zum Glück erweist sich die chronologische Abfolge als richtig. Es ist zu erkennen, dass die Filme ausgereifter wurden, nicht mehr nur Ablichten von Schaustellern usw. waren, sondern sich dramaturgische Mittel entwickelten und zum Einsatz kamen. Und dann auch einfach gute Sujets, allen voran der sehr witzige Film „La femme collante“, dem ich den deutschen Titel „Die klebrige Frau“ gegeben habe.
Es zeigt sich, dass das Programm überhaupt nicht langweilt. Das Gegenteil triit ein, und das ist ganz wesentlich der energiegeladenen, vorwärts drängenden Musik von Richard Siedhoff zu verdanken. Er ist zum ersten Mal in Karlsruhe, und wird sicher öfters wiederkommen. Manche der Komödien bekommen durch seine Begleitung am Klavier so noch mehr Tempo, noch mehr Witz. Eine hinreißende, begeisternde Aufführung!

Freitag, Zweites Programm: „Das Mädchen mit der Hutschachtel“

Filme von Boris Barnet sind immer ein Höhepunkt eines jeden Festivals. Das hängt ganz ursächlich mit Barnets kaum zu überschätzender Fähigkeit zusammen, komische Charaktere, Handlungen und Situationen zu schaffen. Wir sind in der Zeit der sogenannten „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP), während der es in der Sowjetunion zu einer Phase wirtschaftlicher und politischer Liberalisierung kam. Der Film kritisiert heftig die Frau, die in Moskau ein Hutgeschäft betreibt und ihren Mann, der ersichtlich unter „dem Pantoffel“ steht. Sie betrügen die junge Natascha (Anna Sten), die ihre selbstgefertigten Hüte aus ihrem Dorf, wo sie zusammen mit ihrem Großvater lebt, nach Moskau bringt. Als kleinbürgerliche Typen haben die Besitzerin des Hutgeschäftes und ihr Mann gegenüber der sozialistischen Hausverwaltung angegeben, dass Natascha mit ihrem Mann, den es aber gar nicht gibt, in einem Zimmer bei ihnen wohnen würde. Bei ihrer Fahrt nach Moskau wird Natascha von einem über ihr im Abteil sozusagen im Gepäckfach schlafenden Mann gestört, der auch noch ich ihren Hutkarton tritt. Ilja, der junge Mann (I. Koval-Samborski) reist nach Moskau, um dort zu studieren. Und dann gibt es noch den unsterblich in Natascha verliebten Schalterbeamten der Eisenbahn, gespielt von Vladimir Fogel.
Dieses Figurenensemble garantiert alleine schon eine turbulente Handlung, die so recht in Schwung kommt, als sich herausstellt, dass das Los, das der Mann der Hutladenbesitzerin Natascha anstatt des Gelds für ihre Hüte gegeben hat, tatsächlich gewonnen hat, und darüber hinaus die Hausverwaltung den Mann Nataschas zu sehen wünscht. Natascha wendet sich in ihrer Not an Ilja, dem sie wiederbegegnet ist, und es kommt, was kommen muss …

Werner Küspert und Kollegen begleiten den Film mit einer stimmigen Musik, wobei ich zugeben muss, dass meine Aufmerksamkeit doch sehr durch den Film gefesselt war, so dass ich zur Musik kaum mehr sagen kann.

Obwohl also der Film Barnets an den kleinbürgerlichen Figuren der Hutladenbesitzerin und ihres faulenzenden Ehemanns mit all ihren bourgeoisen und dekadenten Verhaltensweisen eine deutliche Kritik übt, bekam der Film nach seiner Uraufführung keine angemessene positive Resonanz; nein, er wurde als nicht genügend sozialistisch kritisiert, seine Qualität wurde verkannt, es wurde dem Film keine große Zukunft zugebilligt. Wie schön, dass sich die kommunistische Kulturkritik geirrt hat.

Boris Barnet, Das Mädchen mit der Hutschachtel (1927)

 

Freitag, Drittes Programm: Der Alkoholische Slapstick

Ein Kurzfilmprogramm

Wie dieses Programm entstand, habe ich bereits in der Programmbroschüre dargelegt und möchte es deswegen hier nicht wiederholen. Alle Filme des Programms drehten sich um das Thema „Alkohol“, und ausgehend von einem relativ simplen Slapstick-Film mit dem weniger bekannten Billy Bletcher, der die „Probleme“ des Alkohol-Genusses in der Prohibitionszeit schildert, war das Programm steigernd aufgebaut, um in Chaplins „The Cure“ (Die Heilquelle) zu kulminieren.

Bei einer früheren Aufführung vor vielen Jahren „flippte“ das Publikum vollkommen aus; dieses Mal kommt es leider nicht dazu, und, man muss es leider sagen, es liegt vermutlich an der musikalischen Begleitung.

Wir hatten ein besonderes Experiment gewagt. Nach langen Mühen war es uns gelungen, eine Unterstützung der in Karlsruhe angesiedelten Riemschneider-Stiftung zu erhalten. Allerdings waren die Konditionen etwas speziell: die Riemschneider-Stiftung erklärte sich bereit, zwei Stipendien für Studierende der Musikhochschule Karlsruhe zur Verfügung zu stellen; die zwei Stipendiaten bzw. Stipendiatinnen sollten durch die Musikhochschule benannt und die Stipendien dann direkt über die Musikhochschule ausbezahlt werden.

So hatten wir auf die Wahl der beiden Studierenden und auf die Musik, die sie für die Begleitung komponieren würden, letztlich keinen Einfluss. Die beiden Studierenden Natalia Martin Barroso Garcia und Nicolas Mitschke wurden von Prof. Damon Lee benannt und komponierten eine Musik, die zum Teil live gespielt, zum Teil vom Laptop kam und also vorkomponiert war. Die Studierenden erlernen vor allem Komposition bzw. Filmmusik für aktuelle Filme, und so hört sich auch die Musik an. Sie wird den Stummfilmen eigentlich nicht gerecht, und ist oft viel zu mächtig. Und es zeigt sich, dass Musik für Komödien ganz besonders schwierig zu sein scheint. Oft erscheint mir die Musik zu dramatisch, manchmal denke ich, ich sei in der Aufführung eines Horrorfilms, sobald ich die Augen schließe. NB: das ist ein bewährtes Mittel von mir, eine musikalische Begleitung zu testen. Wenn ich den Film auch noch mit geschlossenen Augen im Kopf habe – dann ist es ok. Nein, hier sind die Filmbilder sofort weg.

Den beiden Studierenden möchte ich keine Vorwürfe machen; die Begleitung von Stummfilmen erschließt sich wohl nicht ad hoc; ich hoffe aber, die beiden haben etwas gelernt und es hat ihnen etwas Spaß gemacht. Prof. Damon Lee scheint sehr zufrieden zu sein.

Wir hätten uns eigentlich gewünscht, mit der Förderung durch die Riemschneider-Stiftung einen Workshop unter Leitung eines der bekannten Stummfilmmusiker anbieten zu können – aber das ließ sich leider nicht realisieren.

Einerseits haben wir endlich bei der Riemschneider-Stiftung einen „Fuß in die Tür“ bekommen; andererseits ist es etwas schade für dieses absolut kurzweilige und vergnügliche Programm. Von den Mitgliedern der Jury, die bei der Stiftung über die Mittelvergabe an Projekte entscheidet, ist niemand gekommen.

Vierter und fünfter Tag: siehe 2. Teil des Tagebuches  

Josef Jünger

Titelfoto: Charles Chaplin und Eden Purviance in „The Cure“ von Charles Chaplin.

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