Vertraute Stille, zögernder Ton – Norma Schearer in „The Trial of Mary Dugan“ (1929)

Wenn wir in cineastischer Hinsicht an das Jahr 1929 denken, fallen uns wahrscheinlich etliche Filme ein: Das Musical und Oscar-Preisträger als Bester Film des Jahres „The Broadway Melody“ von MGM war beispielsweise in den USA und auch im Ausland ein großer Erfolg. 1929 ist auch das Jahr von Vidors „Halleluja!“, der ersten mehrsprachigen Version von „Atlantic“, die von E. A. Dupont in London gedreht wurde, ferner vieler wichtiger Stummfilme wie der UFA-Produktion „Asphalt“ von Joe May und französischer Filme unter der Regie von Epstein, Autant-Lara, Duvivier, Feyder. Schließlich entstand 1929 mit „Un chien andalou“ von Buñuel ein ganz besonderes Werk.

Wenn wir an 1929 denken, dann stellt „The Trial of Mary Dugan“ höchstwahrscheinlich keine der wichtigsten Referenzen dar. Allerdings glaube ich einige gute Gründe zu kennen, die es wichtig erscheinen lassen, sich auf diesen Film zu konzentrieren und ihn wieder in unser Gedächtnis zurückzuholen. Diese Gründe möchte ich im Folgenden schrittweise vorstellen.

Zunächst ist „The Trial of Mary Dugan“ der erste und einzige Tonfilm unter der Regie von Bayard Veiller und auch der erste talkie der Schauspielerin Norma Shearer. Shearer wurde in Quebec, Kanada, geboren und verkörpert hier die Rolle eines Broadway-Showgirls. Ihr Nachname „Dugan“ ist irischen Ursprungs – wenn wir den Kontext betrachten, ist dies bereits ein relativ internationales Set. Veiller schrieb 1927 auch das gleichnamige Bühnenstück und hatte zwischen 1920 und 1925 mehrere Stummfilme gedreht. Fünf weitere Stücke von ihm wurden nach 1929 auf die Leinwand angepasst gebracht, darunter ein Remake von „The Trial of Mary Dugan“ im Jahr 1941 unter der Regie von McLeod: Veiller hat einige dieser Filme produziert, obwohl er in seiner Karriere nie wieder bei einem Tonfilm Regie geführt hat. Diese Tatsache lässt mich an etwas denken: Es ist relativ bekannt, in welcher Weise sich der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm auf die Karriere von Schauspielern und Schauspielerinnen, Diven und Vedetten ausgewirkt hat. Viele von ihnen erlitten einen Karriereknick oder mussten ihre Arbeit sogar ganz einstellen, weil ihre Stimmen beim Publikum eine negative Wirkung erzielten. So gelang es Pola Negri z. B. nicht, ihren polnischen Akzent abzulegen, was ihr beim amerikanischen Publikum sehr schadete.

Probleme bei der Stimmbildung und Aussprache waren am Anfang tatsächlich ein Risiko, das Künstler und Studios dazu brachte, an ihrer Position und ihren Stärken zu zweifeln. In diesem Sinne hatten Stummfilme stattdessen ein sicheres Umfeld dargestellt. Das Karriereende von John Gilbert ist beispielhaft, da er den „Mikrofontest“ nicht bestanden hat. Ähnliches könnte für Veiller gelten, was bedeuten würde, dass auch Regisseure von der Umstellung auf Tonfilm gleichermaßen betroffen werden konnten – obwohl dies nur eine Hypothese ist. Ein Gegenbeispiel stellt Greta Garbo dar; sie bestand den Test erfolgreich, wurde aber auch als Hauptstar ihrer Produktionsgesellschaft MGM durch eine sehr sorgfältige Strategie geschützt. Gleiches gilt für Norma Shearer, die ebenfalls erfolgreich den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm bewältigte. Ihr Fall ist jedoch nicht so berühmt wie der von Greta Garbo, obwohl eine sehr ähnliche Dynamik in „The Trial of Mary Dugan“, der ersten gesprochenen (aufgenommenen) Rolle von Norma Shearer, zu sehen ist.

Die Ära des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm ist in vielerlei Hinsicht einzigartig, und der Grund dafür ist sicherlich die große Vielfalt hybrider Filmformen, die sie auszeichnet. Rick Altman nannte sie „une panoplie de pratiques sonores“ (eine Vielzahl von Tonpraktiken) [Vingtième Siècle, 1995]. Zwischentitel, sound in und off, Voice-Over, Aufnahmetechniken, Umgebungsgeräusche, Dialoge, Gesang und Stille interagierten ständig auf der Suche nach der perfektesten Tonfilmform für Produzenten, Experten der Branche und ebenfalls für das Publikum. Beispielsweise war es durchaus üblich, Ton- und Stummfilmversionen desselben Films parallel herzustellen, um Filmvorführungen auch in Kinos zu ermöglichen, die noch nicht für Tonfilme ausgestattet waren. Wie Hagener betont, „Any film produced on the threshold between silence and sound raises a number of issues around translatability as well as differentiation/standardization“ (jeder Film, der an der Schwelle zwischen Stille und Ton produziert wird, wirft eine Reihe von Fragen hinsichtlich der Übersetzbarkeit sowie der Differenzierung / Standardisierung auf) [Cinema & Cie n° 4, 2004]. In diesem Sinne ist 1929 definitiv für die Wissenschaft eines der produktivsten Jahre, da viele „erste Tonfilm-Erfahrungen“ zu dieser Periode gehören (sowohl in Bezug auf die schauspielerische Darbietung und Produktion als auch auf Rezeption und Distribution).

„The Trial of Mary Dugan“ wurde bereits am 3. April in den USA uraufgeführt, aber die offizielle Veröffentlichung erfolgte im Juni. Der Film ist von dem gleichnamigen Bühnenstück inspiriert. Dieser Krimi spielt fast ausschließlich im Gerichtssaal, in dem Mary Dugan wegen Mordes an ihrem reichen Geliebten angeklagt ist. Ihr Leben steht auf dem  Spiel, denn ihr droht die Todesstrafe. Der Film ist (noch) sehr theatralisch, da wir meistens entweder die Jury oder das Publikum sehen. Die Idee war auch, das Publikum im Kino emotional zu fesseln, in dem ihm eine starke Identifizierung mit dem Publikum im Gerichtssaal ermöglich wurde. Schon wieder ein ziemlich theatralischer Schachzug. Plötzlich mischt sich Jimmy, der Bruder Marys, in den Prozess ein. Er ist Anwalt, und steht auf, um seine Schwester zu verteidigen. Der Film gliedert sich dann im Wesentlichen in eine Folge von Zeugenaussagen, bis ein besonders unerwarteter Zeuge eintrifft…

Was ich an der Filmkonstruktion sehr eigenartig finde, ist die zeitliche Gestaltung von Norma Shearers Dialog. Der Film wurde in allen Ländern als „100% talkie“ und erster Tonfilm mit Shearer und Veiller präsentiert. Es ist auch wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Film um eine Mehrsprachenversion handelt, was bedeutet, dass andere Versionen auf der Grundlage desselben Drehbuchs gedreht wurden, allerdings mit unterschiedlichen Darstellerinnen und Darstellern – eine für jedes Land, das an der Filmproduktion interessiert war: Shearers Alter-Egos sind hier Nora Gregor in der deutschen Version, deren Verleihtitel „Der Mordprozeß Mary Dugan“ lautete; in der französischen Version „Le Procès de Mary Dugan“ spielte Huguette Duflos die Hauptrolle, und in der spanischen Version „El proceso de Mary Dugan“ war es Ladron Guevara. In der Presse dieser Länder wurde der Film natürlich in seiner jeweiligen national(isiert)en Fassung präsentiert, aber auch das „Original“ wurde oft zitiert. In einem Interview, das im Sommer 1931 in „Pour Vous“ veröffentlicht wurde, kommentierte der Schauspieler Charles Boyer, der in französischen Fassung spielte, nachdem er genau das Original „The Trial of Mary Dugan“ erwähnt hat: „Enfin, le progrès sera dans les « silences ». Moins de verbiage inutile, moins de dialogue, le minimum de texte parlé.“ (Schließlich wird der Fortschritt der Handlung in den „Momenten der Stille“ der „Stille“ liegen. Weniger nutzloser Wortwust, weniger Dialog, ein Minimum an gesprochenem Text).

Leider konnte nur die englischsprachige Hauptversion gefunden und gesichtet werden, aber der Kommentar von Boyer unterstützt unsere These in Bezug auf die Dichotomie Stumm-Ton, die wir gleich präsentieren werden. Vorher hier ein Foto von den Dreharbeiten mit Duflos, Boyer und Bergère, sowie die Poster der anderen Versionen des Films:

Zurück zur zeitlichen Gestaltung des Dialogs von Norma Shearer, möchten wir auf folgende interessante Tatsache hinweisen: Von Beginn des Films an erscheint die Figur von Mary Dugan, von ihr sind viele Geräusche zu hören (meistens aus Verzweiflung), sie erscheint oft in Naheinstellungen, und dennoch spricht sie nie. Besonders nachdem der Bruder angekommen ist, sprechen die beiden viel miteinander, aber wir sehen nur ihre Mundbewegungen, und hören nie, was sie miteinander sprechen. Dies könnte durch die Hintergrundgeräusche im Gerichtssaal verursacht sein, allerdings ist das Ergebnis immer noch ziemlich seltsam, da die Kamera sich genau darauf konzentriert, dass sie miteinander sprechen. Gerade als Jimmy ankommt und als der Richter ihr direkt eine Frage stellt, gibt sie in Minuten 00:39 und 00:46 die schüchterne „Oh, Jimmy, you mustn’t stay here!“ und „Yes sir, I do“. Trotzdem müssen wir bis zum Ende der Minute 00:57 warten, um einen vollständigeren Satz zu hören, der plötzlich zu einer Art Monolog wird: Von diesem Moment an wird Shearer/Dugan nicht mehr aufhören zu sprechen und am Ende wird sie ungefähr eine halbe Stunde lang bis 01:22 gesprochen haben (die Gesamtdauer des Films ist 01:53). Es muss auch gesagt werden, dass diese Art der zeitlichen Gestaltung des Dialogs mit einer starken Sensibilität für die Steigerung der Spannung aufgebaut ist, was uns wirklich darauf warten lässt, dass Shearer/Dugan spricht. Boyers oben zitierte Worte veranlassen mich anzunehmen, dass diese Dynamik im französischen Film reproduziert wurde und dass die stillen Momente im Gegensatz zu dem lang erwarteten gesprochenem Dialog tatsächlich eine starke Rolle spielte. Kurz gesagt, dieser Film zeigt uns, wie der Ton tatsächlich Momente der Stille erst hervorbrachte – eine oft wiederkehrende Idee in der Presse der dreißiger Jahren.

Somit lassen sich einige Fragen entwickeln: Warten wir darauf, Shearers Bericht im Laufe der Handlung zu hören, oder warten wir darauf, dass sie überhaupt anfängt zu sprechen? Ist diese Gestaltung ihres Dialogs nur für diesen speziellen Film gültig oder ist sie untrennbar mit dem Übergang von der Stummfilmdiva zum Tonfilmstar verbunden? In den letzten dreißig Minuten des Prozesses weint Shearer, lächelt, zeigt Anzeichen von Stress, Verzweiflung, sie steht sogar auf und setzt sich wieder, aber sie spricht nicht wieder – zumindest nicht bis zu den letzten Sekunden, weil die abschließenden Worte des Films ihre eigenen sind „Jimmy, am I free? Oh, Jimmy, you did it!“. An diesem Punkt stellen sich weitere Fragen: Worum geht es in dem Prozess? Ein fiktives Verbrechen oder Shearers Sprechhandlung? Steht ihre endgültige Veröffentlichung metaphorisch für eine Art Übergangsritus zu Tonfilmen?

Da der Hintergrund dieses Films das gleichnamige Broadway-Bühnenstück desselben Regisseurs ist, schlagen wir nicht vor, dass es sich um eine vollständig beabsichtigte metaphorische Konstruktion handelt. Das Timing des Films, die Wahl des Bildrahmens und die Gestaltung der stillen Momente, sowie die Sichtbarkeit ihrer „Verteidigung“ machen es jedoch durchaus plausibel zu glauben, dass die formale Gestaltung von Shearers/Dugans Dialog tatsächlich ein zentrales Element der bereits exquisiten Narration war.

Folglich könnten wir sagen, dass nicht nur Mary Dugans, sondern auch Norma Shearers Unschuld sich endlich erwiesen hat…

Maria Adorno

Titelfoto: normashearer.com

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